Meine Oma starb im Mai 2019. Das Wort Corona kannte sie nicht. © picture alliance/dpa

Corona-Jahr

„Du Papa, ich bin froh, dass die Omma nicht mehr lebt“

Meine Oma starb im Mai 2019. Das Wort Corona kannte sie nicht. Es gab nicht nur einen Moment in diesem gruseligen ersten Jahr des neuen Jahrzehnts, in dem ich dachte: Zum Glück ist die Omma tot.

03.01.2021 / Lesedauer: 5 min

Ich bin spät dran mit meinem Nachruf. Und eigentlich wollte ich nie einen schreiben. Warum auch? Meine Oma war nicht bekannt. Sie war eine gewöhnliche Frau, sie kam im Pott auf die Welt, lebte dort, betrieb dort einen Tante-Emma-Laden, verbrachte die Rente im Pott, bevor sie in ein Altenheim an der Ruhr kam.

Sie lebte fünf Jahre im Heim. Dann starb meine Oma. Sie starb nicht am Virus – sie starb im Mai 2019. Das Wort Corona kannte sie nicht.

Meine Omma – nennen wir sie so, wie meine Familie sie nannte – hatte Asthma. Das Asthmaspray, das sie bis zuletzt bei sich trug, nutzte sie nicht jahrelang, sondern Jahrzehnte. Wenn sie im Bett lag, lag der Sprüher neben ihr auf dem Nachttisch; wenn sie im Gemeinschaftsraum des Pflegeheims saß und aufs Abendbrot wartete, hatte sie den Sprüher in der Hand. Der Sprüher war ihr Begleiter – beim Besuch in der Cafeteria, beim Bingo und draußen an der frischen Luft.

War er mal nicht da, wurde sie unruhig bis hysterisch. Sie war über 90, als der Arzt ihr ihn wegnehmen wollte. Keine Chance.

Wäre meine Omma nicht 2019 gestorben, eine Corona-Infektion hätte sie nicht überlebt.

„Ich hab heut Nacht so schlecht Luft gekriegt“

Es gab nicht nur einen Moment in diesem gruseligen ersten Jahr des neuen Jahrzehnts, in dem ich dachte: Zum Glück ist die Omma tot. Irgendwann sagte ich das zu meinem Vater, ihrem Sohn. Ich fand das nicht schlimm und auch nicht pietätlos. „Du Papa, ich bin froh, dass die Omma nicht mehr lebt.“

Und wäre die Omma nicht schon 2019 gestorben und auch nicht am Virus – die Sorge hätte sie umgebracht.

Meine Omma machte sich Sorgen. Viele und immer. Wenn wir in den Urlaub fuhren, wenn man zu viel arbeitete, wenn mein Vater auf Dienstreise ging. Und abends im Bett, da kreisten die Gedanken, während der Sprüher auf ihrem Nachttisch lag. Da dachte sie an die Lebenden und an die Toten – die Brüder und Onkel und Tanten und Bekannten, sie hatte sie überlebt. Und wenn sie daran dachte, bekam sie meistens noch schlechter Luft. Das erzählte sie manchmal. Ich hab heut Nacht so schlecht Luft gekriegt.

Was wäre, wenn die Omma jetzt noch leben würde?

Als die Zahlen Anfang 2020 stiegen, Angehörige die Omas und Opas nicht mehr im Pflegeheim besuchen durften, kamen mit den Nachrichten auch meine Gedanken: Was wäre, wenn die Omma jetzt noch leben würde?

Sie hätte verstanden, was los ist, sie war klar im Kopf. Aber sie hätte sich Sorgen gemacht. Nicht um sich selbst, sondern um uns. Wir, die Familie, da draußen in der Welt, während die Viren nur so umherschleudern. Was sagt man dann? Ach Omma, alles halb so wild. Wir sind doch zu Hause, uns kann nichts passieren.

Nur ein paar Kilometer lag das Pflegeheim von meinem Elternhaus entfernt – in Zeiten von Corona wäre es die Welt gewesen für die Omma.

Sie war Ende 80, lebte allein in ihrer Wohnung im Pott, als sie an einem Sonntagabend meinen Vater anrief und sagte, sie wolle nicht mehr allein sein. Nach 60 Kilometern im Auto lag meine Mama ein paar Stunden später bei meiner Omma im Bett. Am nächsten Morgen machte sich mein Papa auf die Suche nach einem Heimplatz. Sie kam in die Kurzzeitpflege und von da in ihr Einzelzimmer mit Blick ins Grüne. Schön is dat hier, sagte sie immer.

Das Altenheim tat ihr gut

Das Heim tat ihr gut – und es tat auch unserem Verhältnis gut. Ich hatte nicht immer das beste zu meiner Omma. Sie quatschte mir manchmal zu viel rein. In den fünf Jahren im katholischen Seniorenzentrum wurde das weniger, auch wenn sie bis zum Schluss nicht verstand, warum ich noch nicht verheiratet war.

Willst du denn nicht mit dem richtigen Mann durchs Leben gehen, Vannesssa? Sie betonte das V immer so hart und das S mit diesem Zischlaut. Das hatte etwas Garstiges. Ja eben, Omma, mit dem richtigen und nicht mit dem falschen.

Ja dat sach auch, Mann. Das sagte sie öfter. Das war ihre Art von Zustimmung.

Ja dat sach auch, Mann. So hört sich Zustimmung im Pott an.

Das Sauerland kannte sie nur von Besuchen, jetzt lebte sie hier. In dem Heim an der Ruhr mit dem Blick ins Grüne und dem Einzelzimmer, den anderen Omas und Opas, den Bingo-Nachmittagen – und den schlabberigen Waffeln in der Cafeteria. Die fand ich nie so richtig gut, aber wenn wir sie besuchten, gab’s halt die Waffel. Und immer war sie schlabberig.

Meine Omma hatte vorher meistens schon Kuchen gegessen und Duplo, trank dann eine Fanta in der Cafeteria. Sowieso fand meine Omma Zucker ganz gut: Duplo, Fanta, Kuchen. Und dann noch der Sprüher, eine gute Kombi.

Ein paar Tage später war sie plötzlich tot

Ich aß die schlabberige Waffel auch, als ich sie im Mai 2019 das letzte Mal sah. Mein Papa war dabei, mein Bruder mit dem Ur-Enkel. Pass auf, sagte sie, als der Ur-Enkel irgendwann auf die Rutsche wollte. Sie machte sich Sorgen, alles wie immer. Ein paar Tage später war sie tot.

Mich erreichte die Nachricht im Urlaub – und ich konnt’s nicht glauben. Die Omma ist tot? Aber die machte doch noch so einen guten Eindruck das letzte Mal.

Eineinhalb Jahre ist das jetzt her. Sie verlor im Heim das Bewusstsein, starb wenig später im Krankenhaus. Einfach so. Vielleicht hatte sie eine Fanta zu viel, vielleicht hatte sie einmal zu viel gesprüht. Kann alles nicht so schlimm gewesen sein, sie wurde immerhin 92. Vielleicht starb sie zum richtigen Zeitpunkt, denn sie starb nicht an Corona.

Ich bin ein bisschen froh, dass sie 2020 nicht mehr miterleben musste. Und könnte ich der Omma noch sagen, dass ich ein bisschen froh deswegen bin, vielleicht hätte sie geantwortet:

Ja dat sach auch, Mann.

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