„Man ist manchmal kurz vorm Wut-Heulen“, sagt eine medizinische Fachangestellte einer Hausarztpraxis in Schwerte. Seit Beginn der Corona-Pandemie stellen die Arzthelferinnen der Praxis, die anonym bleiben möchte, vermehrt Respektlosigkeit ihrer Patientinnen und Patienten fest. Unhöflichkeit, Ungeduld, sogar Beleidigungen seien Alltag.
Häufig fahre eine der Angestellten mit Bauchschmerzen zur Arbeit, sagt sie. Die Situation sei bisher noch nie so schlimm gewesen. „Wir reden hier nicht von Einzelfällen“, betont sie. Die Aggression gegenüber den Arzthelferinnen sei extrem gestiegen. Ein fehlendes „Guten Tag“ sei da noch harmlos. Außerdem bringen die Menschen ihrer Meinung nach kaum Geduld mit. „Zehn Minuten warten ist zu lang“, sagt sie.
Streitthema: FFP2-Maskenpflicht
Ein großes Streitthema: die FFP2-Maskenpflicht in den Praxen. Den Patienten und Patientinnen zu erklären, dass man immer noch vorsichtig sein müsse, sei schwierig. Sie reagieren darauf teilweise mit Beleidigungen, erzählen die Arzthelferinnen.
Anke Richter-Scheer, 1. Vorsitzende des Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe, kann die Aussagen der Arzthelferinnen nachvollziehen. Der Verband vertritt die Interessen von mehr als 4.500 hausärztlich tätiger Ärztinnen und Ärzte der Umgebung. „Wir beobachten durchaus, dass der Ton in den Praxen oftmals schärfer und ungehaltener wird“, sagt sie. Die Patientinnen und Patienten reagieren vermehrt fordernder und ungeduldiger.

Zwar könne der Hausärzteverband die Erfahrungen der medizinischen Fachangestellten aus Schwerte nicht direkt bestätigen, andere Praxen sollen aber von ähnlichen Problemen sprechen: „Eine Praxis in Rheine hat sich in den vergangenen Tagen etwa in einem offenen Brief an ihre Patienten gewandt, mit der Bitte um mehr Rücksichtnahme“, so Anke Richter-Scheer.
Ihr Job werde von den Menschen als selbstverständlich angesehen, sagen die Arzthelferinnen aus Schwerte im Gespräch mit unserer Redaktion. So begegnen die Menschen dem Chef der Praxis ganz anders, sagen sie. Dennoch bekomme der Arzt den Umgang mit. Auch er ruft in einem offenen Brief zu mehr Empathie, Solidarität, Höflichkeit, Geduld und Demut auf. „Sicherlich darf man als im Bereich der medizinischen Versorgung tätiger Mensch nicht voraussetzen, dass erkrankte Menschen immer von stabiler emotionaler Befindlichkeit sind. Häufig mangelt es aber selbst an den grundlegendsten Prinzipien eines höflichen Umgangs miteinander“, schreibt der Schwerter Arzt.
Kein Corona-Bonus für Arzthelferinnen
Anke Richter-Scheer betont, dass sich viele Patientinnen und Patienten nach wie vor respektvoll und freundlich verhalten, doch die Ausreißer nehmen zu. Seit den letzten 1,5 Jahren, nachdem die Anfangs-Sorgen aufgrund der Corona-Pandemie nachgelassen haben, verschlechtere sich die Stimmung jedoch zunehmend, so die Praxis aus Schwerte.
Krankenhäuser, Altenheime, Pflegepersonal – alle werden erwähnt, doch die Hausarztpraxen fühlen sich seit mehr als zwei Jahren vergessen. Und das, obwohl medizinisches Fachpersonal häufig der erste Ansprechpartner für die Patientinnen und Patienten sei. „Wir sind auch noch da“, sagen die Arzthelferinnen. Trotzdem lesen sie nur selten mal einen Bericht in den Medien über ihren Beruf und fühlen sich von der Regierung berücksichtigt.

„Wir impfen, machen Corona-Abstriche, Erstversorgungen, kümmern uns um Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Rezepte. Der ganz normale Alltag muss auch weiterlaufen“, zählen die Angestellten nur einige ihrer Tätigkeiten auf. Einen Corona-Bonus haben die medizinischen Fachangestellten bisher nicht erhalten, was sie stark kritisieren. Und das obwohl, sie sich selbst einem ständigen Risiko aussetzen, selbst zu erkranken.
Die Teams in den Hausarztpraxen erleben seit beinahe drei Jahren einen pausenlosen Ausnahmezustand, bestätigt Anke Richter-Scheer. Sie setzen sich unter schwierigen Bedingungen für die Patientinnen und Patienten ein und seien natürlich mit den selben Sorgen und krankheitsbedingten Ausfällen konfrontiert.
Genug Rücksicht genommen
Anke Richter-Scheer vermutet, dass die Menschen seit Pandemiebeginn unter einem erhöhten Druck stehen. Sie seien mit Ängsten und Unsicherheiten konfrontiert. „Auch die aktuell unruhigen Zeiten mit Ukraine-Krieg, Inflation, Energiekrise und den damit verbundenen Geldsorgen beeinträchtigen die Menschen“, so die Vorsitzende, „daraus resultiert bei manchem offenbar das Gefühl, dass er nun genug Rücksicht genommen hat und es sich „auch mal um ihn“ drehen muss.“
Nicht nur Hausarztpraxen betroffen
Das Phänomen lasse sich zudem nicht nur in Hausarztpraxen beobachten. Eine Arzthelferin aus Schwerte habe ähnliches bei einer Kollegin einer Zahnarztpraxis gehört, eine andere von einer Gynäkologin.
„Corona hat die ganze Welt verändert“, sagt eine Angestellte der Praxis aus Schwerte. Sie glaubt nicht, dass die Situation sich wieder so entspannen werde, wie vor der Pandemie. „Wir möchten helfen, aber werden mit Füßen getreten“, sagt sie. Eine weitere Arzthelferin aus Schwerte bestätigt die Aussagen der medizinischen Fachangestellten in der anderen Praxis. Auch sie sei bereits von Patientinnen und Patienten beleidigt worden und erlebt eine zunehmende Ungeduld und Respektlosigkeit ihr und ihren Kolleginnen gegenüber.
Job aktuell nicht empfehlenswert
Nachsicht von beiden Seiten sei laut Anke Richter-Scheer am wichtigsten. Die Patientinnen und Patienten müssen für die Herausforderungen in den Praxen sensibilisiert werden. Und die Praxen selbst können sich kommunikative Strategien aneignen, um souveräner mit aggressivem Verhalten umgehen zu können. Der Hausärzteverband selbst bietet zum Beispiel ein solches Training an.
Seit 30 Jahren arbeiten die medizinischen Fachangestellten der Praxis aus Schwerte bereits zusammen. Den Job würden sie derzeit aber niemandem empfehlen. „Wenn wir uns untereinander nicht hätten, wären wir alle schon gegangen.“
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