Ramin Fallahi knetet nervös seine Handknöchel. Heute Morgen sei wieder ein Demonstrant hingerichtet worden. Das sagt er mit leiser Stimme. Während er im Jägerzimmer des Landhotels Voshövel in Schermbeck sitzt, bangen tausende Iranerinnen und Iraner in Isolationszellen um ihr Leben.
Eigentlich vermeidet es der 26-Jährige, morgens schon Nachrichten zu schauen. Denn sonst gehen ihm die Ereignisse in seiner Heimat den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf, während er in der Küche des Landhotels Senfkörnerjus für den Rouladen-Hauptgang abschmeckt. Und das Küchenteam um ihn herum muss sich doch auf ihn verlassen können. Doch gerade in diesen Tagen saugt er jede Wendung der Geschehnisse auf den iranischen Straßen in sich auf.
„Ich bin hier, und ich kann nichts machen. Das macht mich so wütend. Wie kann ich meiner Heimat von hier aus behilflich sein? Und ich weiß, wie die Menschen im Iran sich gerade fühlen: Sie fühlen sich allein. Ich möchte stolz darauf sein, dass ich Iraner bin. Auf das Iran der vergangenen 40 Jahre kann ich nicht stolz sein. Wenn ich jetzt im Iran wäre, würde ich auf die Straße gehen. Denn es gibt eine echte Chance, dass sich jetzt etwas verändert.“
Ramin Fallahi stammt aus Shiraz. Was vielen vor allem als Rotweinsorte bekannt ist, bedeutet für ihn Heimat – fünfeinhalbtausend Kilometer entfernt und unerreichbar, solange das autoritäre Mullah-Regime an der Macht bleibt. Denn der junge Koch ist mit 17 Jahren aus dem Iran geflohen, um der Polizei-Willkür zu entkommen.
Nicht konform genug
Immer wieder war er mit der Sittenpolizei aneinandergeraten. Ihre strengen Regeln konnte er schon als Kind nicht verstehen. Er fühlte sich eingeengt und ständig bedroht. Da er ohne Pass aus dem Land geflohen ist und sich so dem Militärdienst entzogen hat, führt kein Weg mehr zurück. Ramin Fallahi hat Angst, wieder ins Gefängnis zu müssen.
„Mein schlimmstes Erlebnis war, dass ich wegen einer falschen Beschuldigung verhaftet wurde. Jemand hat behauptet, ich hätte ein Motorrad gestohlen. So kam ich in eine Zelle auf der Polizeiwache mit ganz vielen anderen Menschen, ohne Toilette. Mitten in der Nacht bin ich zu einer Befragung geholt worden. Sie haben mich so lange geschlagen, bis ich einfach gesagt habe, dass ich das Motorrad geklaut hätte. Dann haben sie mich so lange geschlagen, bis ich ihnen noch mehr Motorraddiebstähle gestanden habe, von denen sie hören wollten. Mein Vater und mein Onkel haben mich mit Schmiergeld aus dem Gefängnis herausgekauft. Von da an war ich aber in unserer Stadt der, der die Motorräder geklaut hat. Ich hätte mir am liebsten etwas angetan, um nicht damit leben zu müssen, der Dieb zu sein, der schon mit 16 im Gefängnis war.“
Während er dies erzählt, versucht der Koch die Tränen zu unterdrücken. Der damalige Schrecken und die Todesangst sind ihm heute noch anzumerken. Er sei danach nie wieder der Gleiche gewesen, sagt er. Und sein Vater schwor ihm, ihn kein zweites Mal aus dem Knast zu holen.
Petra Jansing nimmt ihn tröstend in den Arm. Seit 2016 ist Ramin Teil ihrer Familie. Sie ist mit Ramin zur Ausländerbehörde gegangen, als er noch kein Deutsch konnte. Sie hat sich mit ihm durch Konjugationen und Deklinationen für den Deutschunterricht gequält. Und mit ihm Rilkes Gedicht „Der Panther“ interpretiert, als er den Realschulabschluss nachgeholt hat. Und sie hat ihn auch gecoacht, als er sich für die Ausbildung zum Koch im Landhotel Voshövel beworben hat.
Lebensgefährliche Flucht
Im Iran hatte Ramin Abitur und ein Biologiestudium begonnen. Die Repressionen, die tägliche Gefahr, wegen einer kleinen Übertretung wieder inhaftiert zu werden, ließen in ihm aber einen Wunsch reifen, von dem er keinem erzählen konnte.
„Mein bester Freund und ich haben den Plan gefasst, in die Türkei zu gehen. Ich habe gelernt, Haare zu schneiden, um für die Flucht Geld zu verdienen. Zum Glück kam dann die Nachricht, dass Deutschland die Grenze aufgemacht hat. Wir sind also im November 2015 mit sechs Jungs heimlich geflohen, bis in die Türkei. Dafür mussten wir viele Schlepper bezahlen und sind auf dem Weg beinahe erfroren. Die Überfahrt zu einer griechischen Insel haben wir nur knapp überlebt, als die türkische Wasserpolizei unser überfülltes Schlauchboot anstechen und versenken wollte. Ich habe meine Eltern erst aus Griechenland angerufen. Sie hatten mich da schon tagelang gesucht. Von Athen aus habe ich noch 25 Tage bis nach Deutschland gebraucht – meistens zu Fuß.“

Wenn er sich heute mit seiner Familie über Skype verabredet, weiß er, dass sein Vater seine Meinung geändert hat. Wie andere Menschen im Iran hat er über das Internet erfahren, wie tolerant andere Gesellschaften in vielen Teilen der Welt sind. Sein Vater sei froh, dass es ihm gutgehe, sagt Ramin Fallahi.
„Ich wollte eigentlich einfach nur jung sein, ausgehen, Freunde treffen, eine Beziehung eingehen, tanzen. Drei Jahre habe ich versucht, Breakdance zu tanzen. Und ich wurde immer wieder verhaftet. Sie haben gesagt: Tanzen ist im Iran verboten, du kannst das vergessen. Mein Vater hat kein Verständnis für mich gehabt. Er hat gemeint, ich verstehe einfach nicht, wie das Leben im Iran funktioniert.“
Sogar, dass er in Deutschland zum Christentum konvertiert sei, konnte er seinem Vater inzwischen erzählen. Kein Muslim mehr sein zu wollen, der Wunsch war schon mit 14 Jahren entstanden. Und wenn nun Demonstranten hingerichtet werden mit der Urteilsbegründung, sie hätten „Krieg gegen Gott“ geführt, obwohl sie nur für die Einhaltung der Menschenrechte demonstriert hätten, dann könne dieser Gott nicht sein Gott sein.
„Druck aufrechterhalten“
„Die Protestierenden fordern jetzt genau das, wonach ich mich vor acht Jahren gesehnt habe. Damals konnte ich nur fliehen, weil mich niemand verstanden hat. Und die Frauen sind jetzt einfach mutiger als die Männer. Für die Iraner im Iran wünsche ich mir, dass das Regime vertrieben wird und die Menschen selbst entscheiden, wie sie leben möchten. Und dafür müssen wir den Druck aufrechterhalten – von innen und aus dem Ausland.“
Das Schlimmste in seinen Augen wäre, wenn es niemanden mehr interessiere, dass im Iran Frauen systematisch vergewaltigt würden, um die Protestierenden einzuschüchtern. Dass immer mehr Menschen inhaftiert und hingerichtet würden. Deshalb habe er jetzt seine Geschichte erzählen wollen. Bald drei Monate nachdem die junge Iranerin Mahsa Amini es nicht überlebt hat, dass ein paar Haarsträhnen unter ihrem Kopftuch hervorgeschaut haben.
Diversity selbstverständlich
Küchenchef Christian Penzhorn, Ramins zweite Mutter Petra Jansing und Landhotel-Inhaberin Katharina Klump sitzen mit ihrem jungen Koch am Tisch des gemütlichen Séparées. Der Kontrast zwischen Ramin Fallahis Erlebnissen auf der Flucht, seiner täglichen Not, wenn er die Nachrichten aus der Heimat sieht, und dem sorgsam gepflegten Ambiente hier am Niederrhein könnte nicht größer sein.
„Wir haben 14 Nationen im Team“, berichtet Katharina Klump. „Alle kommen gut miteinander klar und fühlen sich als große Familie.“ Iraner wie Ramin, Syrer, Iraker, Afghanen und eine Ukrainerin, aber auch Polen, Niederländer und eine Halb-Mexikanerin. Gemeinsam schaffen sie sich eine neue Heimat an einer Arbeitsstelle, bei der viel Wert auf Respekt und Toleranz gelegt wird.
Kein Wunder, dass Ramin in Deutschland richtig angekommen ist und sich möglichst bald einbürgern lassen möchte. „Ramin wird sehr geschätzt und gehört zu den Besten“, sagt Küchenchef Christian Penzhorn. „Er bringt eine tolle Energie mit, obwohl er all diese bösen Sachen erlebt hat.“ Und um Ramin Fallahis große Pläne weiß Christian Penzhorn auch.

„Mein Ziel ist es, Sternekoch zu werden. Aber jetzt koche ich erstmal an Heiligabend für meine Ziehmutter Petra. Weihnachten – da fehlt mir noch ein bisschen die Übung. Ich bin der Evangelischen Kirche beigetreten, weil ich das Gefühl hatte, dass man dort besonders frei sein kann. Und die Freiheit, das wusste ich schon mit zwölf Jahren – das ist mir das Wichtigste.“