Kommunale Neuordnung Als Schermbeck fast Dorsten eingemeindet wurde

Vor 50 Jahren wurde Schermbeck fast Dorsten eingemeindet
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„Mit lauter Fröhlichkeit feierten die Schermbecker und Altschermbecker Bürger bei der Jahreswende das Fallen der Schranken zwischen Rheinland und Westfalen in ihrer neuen Großgemeinde“, schrieb Ferdinand Köhler Anfang 1975 in der Tageszeitung.

Anlass für eine feuchtfröhliche Nachtfeier war der Abschluss eines langwierigen Verhandlungsweges, dessen Endergebnis die kommunale Neuordnung in ihrem noch gegenwärtig gültigen Ausmaß war.

Die Bestrebungen zur Neuordnung des hiesigen Raumes reichen bis in die 1960er-Jahren zurück. Zielsetzung war neben der Rationalisierung der Verwaltung auch die Schaffung solcher räumlichen Einheiten, deren wirtschaftliche Entwicklung besser gefördert werden konnten. Eine Sachverständigenkommission der nordrhein-westfälischen Landesregierung legte bereits Ende des Jahres 1966 ein erstes Teilgutachten über die Neugliederung in den ländlichen Zonen vor. Eine zweite Kommission erstellte bis 1968 zwei weitere Gutachten. Auf der Basis dieser drei Gutachten entstand das Gesamtgutachten „Die kommunale und staatliche Neugliederung des Landes Nordrhein-Westfalen des Landes Nordrhein-Westfalen“, das Ausgangspunkt jeder Diskussion wurde. Bereits 1969 war ein erheblicher Teil des Landesgebietes neu gegliedert.

Auch im Schermbecker Raum wurden Neuordnungskonzepte diskutiert, die man, wenn man alle Feinheiten weglässt, auf die existenzielle Frage zurückführen kann: Wird Schermbeck seine Selbstständigkeit behalten können oder wird Schermbeck nach Dorsten eingemeindet? Ein halbes Jahrzehnt hindurch wurde diese grundsätzliche Diskussion geführt, wie ein Blick in die Verwaltungsberichte der ehemals selbstständigen Gemeinden Altschermbeck und Gahlen belegt.

Treffen im Dorstener Rathaus

Schon vor der offiziellen Beratung der Neugliederung auf der Ebene der Kreise Dinslaken, Rees und Recklinghausen machten sich die Gahlener Politiker Gedanken um die Zukunft des Lippedorfes. „Am 29. Oktober 1971 trafen sich im Bürgermeisterzimmer des Dorstener Rathauses Bürgermeister Lampe und Amtsdirektor Dr. Zahn (Dorsten) sowie Bürgermeister Uhlenbruck und Amtsdirektor Sander für die Gemeinde Gahlen, um mit ihren Unterschriften zu bekräftigen, daß beide Orte eine Einheit bilden wollen.“

§ 1 des Gebietsänderungsvertrages lautet: „Die Stadt Dorsten und die Gemeinde Gahlen sind sich darin einig, daß bei der kommunalen Neuordnung die bestehenden Verflechtungen eine Eingliederung der Gemeinde Gahlen in die Stadt erfordern. Die Stadt Dorsten ist bereit, auch nach der Eingliederung die Weiterentwicklung des neuen Stadtteils Gahlen zu sichern. Die durch Beschlüsse der bisherigen Gemeindevertretung festgelegten und aufgezeigten Entwicklungstendenzen werden auch in Zukunft von der Stadt Dorsten weiterverfolgt und gefördert.“

Votum für Anschluss an Dorsten

Der Gahlener Hauptausschuss empfahl dem Gemeinderat in seiner Sitzung am 11. April 1973 zu beschließen: „Es ist der einmütige Wille des Rates, die gesamte Gemeinde ungeteilt mit der Stadt Dorsten zu vereinigen. Auf den Gebietsänderungsvertrag vom 29. Oktober 1971 wird verwiesen.“ In der Ratssitzung am 18. April 1973 folgten die Ratsmitglieder einstimmig dem Empfehlungsbeschluss des Hauptausschusses.

In ähnlicher Weise votierte der Altschermbecker Bürgermeister Ernst Grüter für den Anschluss an Dorsten und damit für den Verbleib im Kreis Recklinghausen. Ein Teil der Altschermbecker Bürger hoffte, mit der Gemeinde Schermbeck eine Einheit bilden zu können. Wer dem für den Anschluss an Dorsten votierenden Ernst Grüter eine Morddrohung schickte, ist bis heute nicht geklärt.

Zwei Menschen küssen sich in einer Schubkarre mit Aufschrift
Die im Zuge der kommunalen Neuordnung des Jahres 1975 erfolgte Vereinigung der beiden selbstständigen Gemeinden Altschermbeck und Schermbeck wurde in den 1970er-Jahren zum Thema einer Schubkarre beim Schubkarrenrennen der Kolpingsfamilie. © privat

Weder die Wünsche aller Gahlener Politiker und der meisten Altschermbecker Politiker gingen in Erfüllung, wie es sich bereits im Jahre 1973 anbahnte, als die Entwürfe für das „Niederrhein-Gesetz“ und für das „Ruhrgebiets-Gesetz“ erschienen. Nach geringfügigen Änderungen erschien in endgültiger Fassung das „Gesetz zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Niederrhein (Niederrhein-Gesetz)“ vom 9. Juli 1974. Im Paragrafen 4 heißt es: „Das Amt Gahlen wird aufgelöst. Rechtsnachfolgerin ist die Gemeinde Hünxe. Das Amt Schermbeck wird aufgelöst. Rechtsnachfolgerin ist die Gemeinde Schermbeck.“

Gesetz zur Neugliederung

Am selben Tag erschien das „Gesetz zur Neugliederung der Gemeinden und Kreise des Neugliederungsraumes Ruhrgebiet“ (Ruhrgebiets-Gesetz), das die selbstständigen Gemeinden Gahlen und Altschermbeck in Teilen betraf. Im Paragrafen 9, der sich mit der Stadt Dorsten befasst, heißt es: „Die Gemeinden Rhade, Wulfen und Lembeck des Amtes Hervest-Dorsten und die Gemeinde Altendorf-Ulfkotte des Amtes Marl sowie Gebiete der Gemeinden Altschermbeck, Kirchhellen, Lippramsdorf und Gahlen (Kreis Dinslaken) werden in die Stadt Dorsten eingegliedert. Sie ist Rechtsnachfolgerin des Amtes Hervest-Dorsten.“

Die heutigen Fluren 66-71 der Gemarkung Dorsten gehörten bis zur kommunalen Neuordnung zu Östrich, einem Teil Gahlens. Die heutigen Fluren 74-79 der Gemarkung Dorsten gehörten zu Emmelkamp, einer Bauerschaft der Gemeinde Altschermbeck.

Großgemeinde Schermbeck

Die beiden Gesetze vom 9. Juli 1974 traten zum 1. Januar 1975 in Kraft. Seit diesem Zeitpunkt gehören acht Ortsteile zur Großgemeinde Schermbeck: Schermbeck, Altschermbeck, Bricht, Damm, Dämmerwald, Weselerwald, Overbeck und Gahlen. Es fiel den Bewohnern und Politikern einiger Ortsteile nicht leicht, sich aus den bis 1974 bestehenden Amtsverbänden zu lösen, um das Wagnis der Mitarbeit in einer neuen Gemeinde einzugehen. Drevenack und Krudenburg verabschiedeten sich aus dem Amtsverband Schermbeck und wurden Teile der Gemeinde Hünxe.

Brünen ist seither mit Marienthal ein Ortsteil Hamminkelns. Schermbeck wurde Rechtsnachfolgerin der bis dahin zum Amt Hervest-Dorsten gehörenden Gemeinde Altschermbeck. Das Amt Gahlen zu Hünxe wurde aufgelöst; die ihm zugehörende Gemeinde Gahlen musste schweren Herzens den Gang über die Lippe nach Schermbeck antreten, obwohl man nur allzu gerne eine Tochter Dorstens geworden wäre.

Urkunde
Diese Urkunde, die bis 1993 im Ratssaal der Gemeinde Schermbeck hing, wurde der politischen Gemeinde Schermbeck vom Kirchenchor „Cäcilia“ überreicht. © privat

Verfassungsbeschwerde

Das Niederrhein-Gesetz und das Ruhrgebiet-Gesetz vom 9. Juli 1974 fügten so zusammen, was im Herzen der Bevölkerung nicht unbedingt gewollt war. Bis Dezember 1975 bemühten sich die Gahlener Politiker vergeblich, im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde den Anschluss an Dorsten zu erreichen. Das Diktat von oben mochten nicht alle „Zwangs-Schermbecker“ so recht feiern. Nur im heutigen Ortskern kam ein wenig Feierstimmung auf.

Allerdings: Ohne offizielle Teilnahme von Amtspersonen fanden sich in der Silvesternacht Bürger auf der Mittelstraße ein, um an der ehemaligen Grenze (Ludgeruskirche, Café Schnitzler/Hennewig) die anstehende Verbrüderung zu feiern. Die Polizei drückte ein Auge zu. Fünf Minuten vor Mitternacht wurde ein von Waldemar Derwing farbig gestrichener Schlagbaum von Fasselt abgeholt. Auf dem freien Platz gegenüber der Ludgeruskirche (heute Niederrheinische Sparkasse RheinLippe) wurde der Schlagbaum von Adolf Ridder und Ludger Baumeister zersägt.

Kommunalwahlen am 4. Mai 1975

Während die Bevölkerung eine Nacht lang das „Einheitserlebnis“ genoss und damit die Katerstimmung der Einheit vor sich herschob, hielten sich die Politiker vornehm zurück. Andere Sorgen plagten. Wer sollte Bürgermeister werden? Der christlich-demokratische Bürgermeister Ernst Grüter vom Schermbecker Osten oder der sozialdemokratische Heinz Lutter vom Schermbecker Westen? Dass die Kripo wochenlang vergeblich damit beschäftigt war, die öffentliche Morddrohung gegen den „Verräter“ Ernst Grüter aufzuklären, der mit Dorsten liebäugelte, zeigt massive Schattenseiten auf.

Am 4. Mai 1975 endete die „Rat-lose“ Zeit in Schermbeck. Bei den Kommunalwahlen erhielt die CDU 51,18 % der Stimmen, die SPD 38,24 %, die FDP 9,28 % und das Zentrum 3,2 %. Ernst Grüter wurde im Café Steinkamp erster Bürgermeister der Großgemeinde Schermbeck, Wilhelm Kemper aus Bricht (CDU) wurde sein Stellvertreter.

Noch heute sind – trotz aller rhetorischen Beteuerungen der politisch Verantwortlichen – die eigentlichen Wurzeln und Bindungen deutlich zu erkennen. Kaum ein Altschermbecker kennt die Kreisstadt Wesel auch nur halb so gut wie Dorsten. Dämmerwalder fühlen sich in Brünen wohler als in Schermbeck, Weselerwalder halten die seit langem bestehenden Kontakte zu Drevenack aufrecht. Die Schießgruppe Altschermbeck hat sich in 50 Jahren nicht aus dem Schützenkreis Haltern-Dorsten lösen und dem Schützenkreis Wesel-Bocholt anschließen können.

Die Gahlener empfangen den Superintendenten aus Dinslaken, betreuen von der Kirchstraße aus Teile der Dorstener Protestanten, lassen in ihren Schützenreihen Östricher und Hardter Grünröcke mitmarschieren.

Ortsteile sind ein klein wenig anders

Die ehemalige Zugehörigkeit zu den beiden Regierungsbezirken Münster und Düsseldorf und zu den drei Kreisen Rees, Recklinghausen und Dinslaken, das Aufeinandertreffen des katholischen Münsterlandes auf die evangelischen Niederrheinlande, eine Sprach- und Brauchtumsgrenze höherer Ordnung quer durch die heutige Mittelstraße, zwei gleichnamige Schützengilden hüben und drüben: Das alles steckt im Detail in den Poren der gesetzlich verschweißten „Acht unter einem Dach“.

Irgendwie sind die acht Ortsteile alle ein klein wenig anders. Wenn die „Dämmschen Ochsen“ nicht am Altschermbecker Schützenzelt Schlange stehen, wenn der „Göhlzen Flöiter“ ein einigendes Band um feierfreudige Lippedörfler zieht und in „Gahlen-Nord“ nördlich der Lippe nicht einmal namentlich bekannt ist, dann sind die historischen Wurzeln auch hier ebenso die Ursache für Unterschiede wie Feiern von acht Schützenfesten zwischen Mai und September und für das Bestehen von vier Heimatvereinen in Schermbeck, Gahlen, Weselerwald und Damm.