Ein Jahr vor der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland 2024 steigt auch die Vorfreude im Ruhrgebiet, das als einziger Ballungsraum in Deutschland mit zwei Spielorten dabei sein wird. Keine andere Region wird so mit dem Fußball verbunden wie das Revier. Der Bund fördert zur EM ein bundesweites Kulturprogramm, welches das Turnier begleiten wird. Die Ausstellung „Mythos und Moderne. Fußball im Ruhrgebiet“ mit ihrem umfangreichen Begleitprogramm ist dabei das allererste Projekt.
Mit federführend bei dieser Ausstellung ist Heinrich Theodor Grütter, der Direktor des Ruhr Museums. Der gebürtige Gelsenkirchener ist nicht nur Historiker und Kulturwissenschaftler, sondern auch bekennender Schalke-Fan. Im ausführlichen Interview mit dieser Redaktion spricht er über die Ausstellung und die besondere Bedeutung, die dem FC Schalke 04 dabei zukommt. Die aktuelle Situation des Bundesliga-Abstiegers sieht er mit Sorge.
Herr Grütter, folgt man ihrer Ausstellung, dann hat der FC Schalke 04 einen entscheidenen Anteil auch an der Fußball-Begeisterung in Dortmund. Das wird nicht jeder BVB-Fan gerne hören.
Heinrich Theodor Grütter: Historisch gesehen ist das aber völlig korrekt: Als die Schalker 1934 die erste Deutsche Meisterschaft geholt hatten, hielt der Zug auf der Rückfahrt aus Berlin in Dortmund. Die Mannschaft ist dort von Tausenden Menschen gefeiert worden. Diese Meisterschaft hat die ganze Region mitgerissen. Das war ein Titel für das Ruhrgebiet. Schalke wurde gefeiert.
Der große Aufstieg des BVB ist ja ein Kind der 1950er-Jahre. Schalkes großer Konkurrent zu dieser Zeit war zunächst Rot-Weiss Essen (RWE). Dahin ins Stadion konnte man mit der Straßenbahn fahren oder auch zu Fuß laufen. Das habe ich übrigens selbst als 15-Jähriger noch gemacht; rund zwei Stunden sind wir von Gelsenkirchen nach Borbeck zum RWE-Stadion gelaufen.
Die große Zeit des Ruhrgebietsfußballs ist in den 1950er-Jahren, als die Zechen ihre höchsten Fördermengen erzielten und von dort der Mammon floss. Da blieben die Titel im Ruhrgebiet: RWE war 1955 Deutscher Meister, Dortmund 1956 und 1957 und dann noch einmal Schalke 04 1958. Und Schalke war das klare Vorbild für alle.
Die Fußballklubs waren bei ihren Gründungen zunächst bürgerliche Vereine, ab den 1920er-Jahren war Schalke dann die am stärksten proletarisch ausgerichtet Mannschaft, mit großer Unterstützung der heimischen Kohleindustrie. Deshalb war Schalke etwas Besonderes und kam zu dieser großen Zahl an Meisterschaften ab 1934.

Sie sind bekennender Schalke-Fan. Wie weit mussten Sie sich bei der Ausstellung zurückhalten?
Grütter: Ich habe die Ausstellung in der Tat in einem größeren Team mit kuratiert – das war mir eine Herzensangelegenheit. Ja, ich bin Schalker seit meiner Kindheit, besitze eine Dauerkarte und war vor gut zehn Jahren auch an der Neukonzeption des Schalke Museums beteiligt. Bei der Auswahl der 450 Fotos haben wir aber auf einen gewissen Proporz geachtet – natürlich.
Die Fotoausstellung zeigt gut ein Drittel aufm Platz, der Rest ist das Drumherum. Wir zeigen die Welt des Fußballs und nicht nur das Spiel. Man sieht die große Vergangenheit und man sieht auch die Gegenwart.
Machen wir einen Sprung in die Gegenwart. Wie bewerten Sie mit den Blick des Historikers den Ruhrgebietsfußball heute und die Schalker Situation?
Grütter: Borussia Dortmund ist den anderen Ruhrgebietsvereinen in letzten 20 Jahren so enteilt, wie Schalke in den 1920er und 1930er-Jahren. Da hat also ein großer Wechsel stattgefunden. Der BVB spielt zurzeit in einer anderen Liga. Schalke steht an einer Wegschneide. Es besteht die Gefahr, dass Schalke den Weg der anderen Reviervereine nimmt. Im Ruhrgebiet haben rund zwei Dutzend Mannschaften mal in den obersten Ligen gespielt. Davon sind bis heute nur nur drei übrig geblieben.
Es wir jetzt behauptet, Schalke sei dieses Mal besser aufgestellt für die zweite Liga. Da bin ich skeptisch. Schalke hat in der abgelaufenen Saison den Riesenfehler gemacht, den Aufstiegskader nicht zusammengehalten zu haben. Aus meiner Sicht war das der Hauptgrund für die missratene Hinrunde. Wenn es jetzt wieder nicht gelingt, zentrale Spieler zu halten, wäre das fatal.
Noch stehen da einige Personalentscheidungen aus. Bei Simon Terodde hat es jetzt Gottseidank doch geklappt, ihn zu halten. Moritz Jenz, Sepp van den Berg, Rodrigo Zalazar, Dominick Drexler und Marius Bülter – wenn man diese Achse zusammen mit Terodde hätte, dann hat Schalke eine Wiederaufstiegschance. Sonst steht Schalke auf der Kippe, für viele Jahre in der zweiten Liga zu spielen.
Der HSV hat uns das ja soeben wieder vorgemacht, wie schwierig es ist, da unten rauszukommen. Und in historischer Perspektive zeigt das auch das Beispiel von RWE. Essen hatte kurz vor dem Abstieg noch internationale Spieler wie Jürgen Wegmann, Frank Mill und Willi Lippens und fand sich dann sogar in der vierten Liga wieder. Duisburg dümpelt seit Jahren zwischen zweiter und dritter, RW Oberhausen zwischen dritter und vierter Liga. Also noch einmal: Die Situation für Schalke ist sehr gefährlich. Man kann einen Verein auch kaputtsparen.
Es könnte auch sein, dass Schalkes große Ära des Ausbildungsvereins zu Ende geht, in der Norbert Elgert regelmäßig kommende Nationalspieler ausbildet hat. Nach Leroy Sané war da zuletzt nur Malick Thiaw. Inzwischen geben wir unsere ausgebildeten Jugendspieler viel zu früh ab. Leroy Sané konnten wir noch halten, bis er gut 50 Millionen gekostet hat, Malik Thiaw haben wir schon für fünf Millionen abgegeben – abgeben müssen.
Ist es gewährleistet, dass die jüngsten Spieler überhaupt noch nach Schalke kommen, wenn Schalke nicht mehr in der ersten Liga steht und sie nicht erwarten können, erste Liga zu spielen, wenn sie sich hier durchsetzen? Das Thema der Jugendausbildung hängt auch vom Erfolg des Vereins ab.

Warum ist Schalke aus ihrer Sicht so abgestürzt?
Grütter: Wir sind jetzt noch einmal da angelangt, wo wir bereits Anfang der 1980er-Jahre waren, als Schalke ein Fahrstuhlmannschaft war. Das sind wir dreimal auf- und abgestiegen. Dann hat Schalke dank Assauer noch einmal die Kurve gekriegt. Der Arena-Bau und Assauers Professionalisierung des Vereins haben den Aufschwung gebracht. Dann kam die Hybris im Verein: Dafür stehen Namen wie Tönnies, der meinte mit großem finanziellen Einsatz, der aber auch nicht seiner war, sondern der aus dem Verein genommen wurde, und mit einem zweifelhaften Sponsor wie Gazprom sich den Erfolg erkaufen zu können.
Schalke ist überschuldet in die Corona-Krise reingerutscht und damit auch in die Tönnies-Krise, weil Corona auch Tönnies geschädigt hat. Dann kam auch noch der Ukraine-Krieg. Damit war die gesamte Struktur des Vereins desavouiert. Man kann der RAG-Stiftung nur danken, dass sie über Vivawest in dieser Situation geholfen hat. Da hat das Ruhrgebiet zusammengestanden, damit dieser Verein am Leben geblieben ist. Die alten Förderstrukturen durch den Bergbau sind da symbolisch noch einmal reaktiviert worden, die ja im Übrigen auch beim BVB immer noch wirken, wo Evonik seit Jahren Sponsor ist.
War auch die Art und Weise wie Domenico Tedesco mit einer Identifikationsfigur Benedikt Höwedes umgegangen ist ein Zeichen dieser Hybris?
Grütter: Dass Tedesco Höwedes rausgeworfen hat, war sicherlich ein Symbol. Aber auch Magath hat Schalke-Legenden gnadenlos entsorgt. Da sind viele Fehler gemacht worden; Mit einer Schalker-Identifikationsfigur muss man anders umgehen muss als mit einem eingekauften Spieler und es braucht Trainer, die den Verein verstehen. Deswegen bin ich sehr froh, dass Schalke in Thomas Reis nun einen Trainer aus dem Ruhrgebiet hat.
Ehemalige Spieler wie Höwedes müssten enger an den Verein gebunden werden. Wir müssen nur nach Dortmund schauen, wo es gelungen ist, Michael Zorc, Lars Ricken und jetzt auch Sebastian Kehl als ehemalige Spieler an das Sportmanagement heranzuführen. Warum hat es das in Schalke nicht in dem Maße gegeben?
In der aktuellen Vereinsführung fehlt es an der richtigen Fußball-Kennerschaft. Ich weiß nicht, wie die einen guten Kader zusammenstellen wollen. Ko Itakura hätte man halten müssen. Den hätte man nicht abgeben dürfen. Jetzt geben sie zum dritten Mal einen Spitzen-Innenverteidiger ab. Mit einem stärker fußballaffinen Vorstand würde das nicht passieren.

Sie benennen Mentalität und Kontinuität als wichtige Erfolgsfaktoren…
Grütter: Im Ruhrgebiet hat der Fußball eine besonders tiefe Verwurzelung in der Montantindustrie. Zugleich ist das Ruhrgebiet auch ein Vorbild für Integration und die Möglichkeit, dass man durch den Fußball aus den Arbeiter- und Migrationsmilieus sozial aufsteigen konnte. Bei Schalke fängt das schon an bei Spielern wie Ernst Kuzorra und Fritz Szepan, deren Familien aus Masuren und Ostpreußen kamen, und geht bis hin zu Mesut Özil oder den Altıntop-Brüdern.
Lange Zeit war das Ruhrgebiet eine kulturfeindliche Region, die nicht viel an Freizeit und Erbauung zu bieten hatte. Der Fußball hatte da eine wichtige Rolle in der Volksunterhaltung. Deshalb hat er hier eine größere Verwurzelung als in anderen Regionen. Der Fußball ist der klassische Sport der Industrieregion und der Arbeiterkultur der größten europäische Industrieregion bis 1945.
Sie betonten auch die quasi-religiösen Züge des Fußballs. Ist das auch eine spezifische Ausprägung des Ruhrgebiets?
Grütter: Die religiöse Bindekraft war im Ruhrgebiet bis in die 1970er-Jahre hinein sehr groß. Die Bergleute hatten eindeutig weniger eine politische als eine kirchliche Prägung. In keiner Region Deutschlands sind so viele Kirchbauten entstanden. Es gab eine religiöse Bindung sowohl katholisch als auch evangelisch, je nach Arbeitgeber. Das spielte auch in das Vereinswesen und damit auch in den Fußball hinein.
In einer gewissen Weise ist die Fußball-Fankultur soziologisch betrachtet nichts Anderes als die Fortsetzung der Religion in die profane Welt. Ein Teil der Dauerausstellung in unserem Ruhr Museum ist überschrieben mit „Liturgie eines Spieltages“ und widmet sich den ritualisierten Abläufen: also zum Beispiel das Anziehen der Kutte, der Weg zum Stadion. Das ist wie ein liturgisches Verhalten, das klar reglementiert ist. Auch ein Kirchenjahr ist bestimmten Rhythmen unterworfen. Das ist im Ruhrgebietsfußball besonders tief verankert. Das vertiefen wir jetzt in unserer Foto-Ausstellung „Mythos und Moderne. Fußball im Ruhrgebiet“.
Die ursprünglich tiefe Religiosität in der Region ist mit den damals gefährlichen Arbeitsbedingungen verbunden, weil man auch um sein Leben fürchtete. Heute ist der Fußball eine Form des Religionsersatzes, in einer Phase der abnehmenden Bedeutung der Religion. Der Fußball hat also einen religiösen Ursprung, aber auch religiösen Charakter. Die gleichsam libidiöse Bindung an den Verein, die nimmt immer weiter zu.

Steht das im Konflikt mit der stärkeren Kommerzialisierung des Fußballs, die sie thematisieren?
Grütter: Es ist interessant, dass im Ruhrgebiet – und bei Schalke im Besonderen – die Supporter offenbar immer stärker werden. Sie stemmen sich der Kommerzialisierung entgegen, sie wollen ihren alten Glauben bewahren, sie verweigern sich der Kapitalisierung und wollen ihre Religionsgemeinschaft unbesudelt wissen. Das ist ein Reinheits-Charakter, der bei Schalke stärker vorhanden ist als bei anderen Vereinen. Bei Vereinen wie Bayern München finden wir so etwas nicht.
Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass die Fans auf Schalke trotz des Abstiegs den eingeschlagenen Weg des Vereins gefeiert haben. Auch die Dortmunder Fans halten zum Verein, obwohl die Mannschaft die Meisterschaft vergeigt hat. Diese christlichen Leiden gehören zu Schalke. Wenn die Geschichte des Vereins erzählt wird, ist es immer auch eine Geschichte des Leidens, auch das hat eine christliche Symbolik.
Natürlich gibt es eine Rettung für Schalke, das werden die Supporter aber nicht gerne hören: Schalke hat einen Wert und muss deshalb an den Finanzmarkt gehen. Die Schalker-Tradition und die Fanbasis ist ein Wertfaktor. Der Verein kommt nur aus der Schuldenfalle, wenn wir den Verein teilweise kapitalisieren. Das ist ein besserer Weg, als den Verein wieder an eine Figur wie Clemens Tönnies und einen zweifelhaften Sponsor wie Gazprom zu binden. Das war der falsche Weg. Man kann sich am Kapitalmarkt positionieren und trotzdem der Tradition verbunden bleiben