Mit welchen Attributen und Bezeichnungen ist der FC Schalke 04 in den 121 Jahren seiner bewegten Vereinsgeschichte nicht schon alles bedacht worden? Turbulent, chaotisch, liebenswert, erfolgreich, erfolglos, hektisch, laut. Die Liste ließe sich problemlos fortführen, eine Vokabel wird bei einer schnellen Aufzählung aber wohl fehlen:
Leise.
Hilfestellung gegen Reizüberflutung
Nein, Schalke ist kein leiser Verein, er kann und soll es auch gar nicht sein. Sven Graner weiß das natürlich, also ist er am vergangenen Mittwoch selbst einmal gespannt auf das, was da am Nachmittag so passieren wird. Graner ist Behinderten-Fanbeauftragter beim FC Schalke 04 und steht mit seinem Volounteer-Team vor dem Fanshop an der Schalker Geschäftsstelle.
Hier wagen die Königsblauen am Welt-Autismus-Tag ein Experiment: Sie haben zur „Stillen Stunde“ eingeladen, die genau genommen aus 04 Stunden besteht. Von 14 bis 18 Uhr soll es den Menschen, für die Reizüberflutungen in verschiedensten Varianten purer Stress bedeuten, ermöglicht werden, den Fan-Shop zu besuchen, zu stöbern und im Idealfall natürlich auch einzukaufen.

Beleuchtung wird reduziert
Nun gibt es grundsätzlich auf dem Schalker Vereinsgelände lautere und turbulentere Ort als den Fan-Shop, aber es geht nicht nur um Lautstärke. Es geht um Dinge, die im Alltag kaum noch wahrgenommen werden, weil sie einfach dazu gehören, ob man das nun mag oder nicht.
Sven Graner klärt auf: „In der Stillen Stunde wird beispielsweise die Hintergrundmusik ausgeschaltet, die Beleuchtung wird aufs Notwendigste reduziert, auch im Fan-Shop sonst laufende Monitore und die Beflockungsmaschine für die Trikots sind dann außer Betrieb.“ Das Personal räumt in den „stillen Stunden“ keine Waren ein, aus oder um, die gesamte Ablenkungskulisse soll auf ein möglichst niedriges Maß reduziert werden.
Nette Dankesworte
Noch hält sich der Andrang am frühen Nachmittag in Grenzen, ohnehin wird nicht „kontrolliert“, ob die Besucher nun extra wegen der „Stillen Stunde“ gekommen sind - der Fan-Shop ist schließlich ganz standesgemäß geöffnet. Auch die Schalker Initiatoren selbst halten sich komplett zurück, es wird keine Statistik geführt, dafür bleiben aber nette Dankesworte vieler Besucher in Erinnerung. Für sie sei das eine wunderbare Gelegenheit gewesen, Schalke so näher zu sein, Schalke auch mal persönlich zu spüren.
Schwierigkeiten im „Alltag“
Und darauf kommt es schließlich an. Inklusion ist Bestandteil des Schalker Leitbildes, und so ist Sven Graner auch schon ein bisschen stolz darauf, „dass die Anregung zur Stillen Stunde aus Fan-Kreisen kam“. Es ist halt gerade für Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen in dem, was wir Alltag nennen, nur schwer zurechtkommen, ein Unterschied, Dinge online zu bestellen oder sie zu fühlen und ihrem Herzensverein einfach ein Stückchen näher zu sein.

Idee aus Neuseeland
Die „Stille Stunde“ ist keine Schalker Erfindung. Es gibt sie bereits in Supermärkten, auch in Schwimmbädern und anderen Einrichtungen. Die Ursprungsidee zur „Quiet Hour“ soll eine neuseeländische Supermarktangestellte gehabt haben, die ein autistisches Kind hat.
Andächtige Ruhe
Im Fan-Shop herrscht eine fast schon andächtige Ruhe. Man könnte sich daran gewöhnen. Keine Hektik, kein Stress. Einfach mal etwas runterkommen, durchatmen. Das wird sich wieder ändern. Am Sonntag spielt Schalke gegen Ulm, der laute Trubel holt sich das Vereinsgelände zurück, die Arena wird zur „Donnerhalle“.
Wer nur zur „Stillen Stunde“ im Fan-Shop einkaufen kann, für den sind Schalker Heimspiele aus gesundheitlichen Gründen in der Regel ziemlicher und wohl zu großer Stress. Schalke versucht zu helfen: In Sensory Bags sind Gegenstände zur Stressvermeidung für Menschen mit Einschränkungen. Kopfhörer, spezielle Stressabbaubälle. „Aber eine Stille Stunde in der Arena werden wir bei einem Spiel wohl nicht hinbekommen“, schmunzelt Sven Graner.
Abseits des Tagesgeschäfts Fußball
Und das ist ja auch gut so. Schalke soll und wird turbulent bleiben, laut, gern auch etwas chaotisch. Auf jeden Fall für die, den Verein mögen, immer liebenswert. Derzeit hat Schalke eine zweitklassige Mannschaft und eine Chefetage, die ihre Erstklassigkeit erst noch unter Beweis stellen muss. Aber abseits davon gibt es auch Personen und Abteilungen, die einen richtig guten Job machen, was im Tagesgeschäft Fußball aber logischerweise kaum registriert wird.

Ein Hilfsangebot
Die „Stille Stunde“ im Fan-Shop ist ein Hilfsangebot für gesundheitlich eingeschränkte Mitglieder der Vereinsfamilie, sie nimmt niemandem etwas weg. Trotzdem gab es gleich nach der ersten Ankündigung auf Social Media auch hämische Kommentare: „Hört auf mit so einem Blödsinn“ oder: „Reizüberflutung krieg ich dann, wenn ich Euch spielen seh‘.“
„Resonanz überwiegend positiv“
Durch diesen Senf, den so manch einer offenbar zwingend dazugeben muss, kämpft sich Sven Graner mit seinem Team schulterzuckend: „Überwiegend ist die Resonanz aber positiv.“ Also soll die „Stille Stunde“ im Fan-Shop wiederholt werden, möglicherweise irgendwann zur Weihnachtszeit, wenn die Hektik besonders groß ist. Und auch „leise“ Arena-Führungen werden vielleicht irgendwann angeboten.
Schalke hat auch eine stille Seite. Und die braucht sich nicht zu verstecken.