Hertener ist Blindenreporter auf Schalke „Wir sind die Augen von Sehbehinderten“

Michael Stimpel lässt Blinde am Stadionerlebnis auf Schalke teilhaben
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Bevor sich Michael Stimpel auf den Weg ins Stadion macht, schlüpft der Hertener, wie viele andere Fußballfans auch, in ein Trikot. Ein königsblaues könnte man meinen, schließlich ist die Arena auf Schalke sein Ziel. Der 67-Jährige schüttelt den Kopf. „Meines ist rot“, sagt er. „Das sieht man besser.“

Michael Stimpel möchte aber vor allem mit seiner Stimme herausstechen. Der ehemalige Angestellte im Sozialamt Gelsenkirchen gehört zum achtköpfigen Team der S04-Blindenreporter, die sehbehinderten und blinden Stadionbesuchern das Geschehen auf dem Rasen vermitteln. Nicht wie ein Radioreporter, betont Stimpel, wenngleich er wie sie bei Heimspielen der Elf von Karel Geraerts auf der Pressetribüne sitzt.

Detaillierte Beschreibungen

„Wir sind die Augen der sehbehinderten und blinden Fans“, sagt Stimpel. Dementsprechend detailliert sind seine Beschreibungen. Flanke, Kopfball und Tor – das allein reiche nicht, erklärt er. Zuhörer des Knappen-Kommentars sollen sich ein genaueres Bild davon machen können, wie der Spielzug auf dem Feld war. Mit welchem Fuß passte ein Spieler den Ball zu seinem Teamkollegen? Wie nahm dieser das Spielgerät an und wie ging’s weiter?

„Wir müssen immer auf Ballhöhe bleiben“, erklärt er. Dabei ist er zwar sachlich, der Hertener macht aber keinen Hehl daraus, dass er auch durch die blau-weiße Brille schaut und emotionaler wird - etwa bei fragwürdigen Entscheidungen des Schiedsrichters. Fußball lebt nunmal auch von Emotionen.

Blick von der Schalker Pressetribüne in die Arena.
Diesen Ausblick hat der Hertener bei Heimspielen des FC Schalke 04. © Stimpel

Der 67-Jährige lacht. Er erinnert sich an ein Gastspiel von Cristiano Ronaldo in Gelsenkirchen. Wie soll man Sehbehinderten schildern, wie sich der Portugiese auf einen Freistoß vorbereitet? Die typische CR7-Haltung beschreibt er passend: „Er geht ein paar Schritte zurück, stellt sich breitbeinig auf und spreizt die Arme etwas von seinem Körper ab: Er steht wie ein Cowboy da – es fehlt nur der Colt.“

Bei Auswärtsspielen im Keller

Michael Stimpel möchte seine Zuhörer teilhaben lassen an dem besonderen Fußball-Erlebnis in der Gelsenkirchener Arena. „Für Stadionbesucher haben wir angefangen“, sagt er. Das war in der Saison 2001/02. Seit der Pandemie reportiert er auch bei Auswärtsspielen. Die Schalker Profis begleitet er dabei nicht, sein Arbeitsplatz bleibt die Arena auf Schalke. „In unserem Keller“, sagt er über das Medien-Center. Vor ihm und einem Kollegen, mit dem er sich während der Spiele alle fünf Minuten abwechselt, stehen Monitore. Vor sich breitet er dann Zettel aus, auf denen er sich die Aufstellung und weitere wichtige Informationen notiert hat.

Michael Stimpel sitzt in einem Kellerraum und blickt auf einen Monitor, während er in ein Mikrofon spricht.
Das ist nicht der „Kölner Keller“: Bei Auswärtsspielen reportiert Michael Stimpel im Schalker Media-Center. © Stimpel

Über eine App können Zuhörer die Reportage empfangen. Dadurch wurde die Reichweite größer: Das Kommentatoren-Team um Leiterin Maren Grübnau erreicht nicht mehr nur eine Handvoll Fans. „Unsere Zuhörerzahl liegt inzwischen im fünfstelligen Bereich“, sagt Stimpel – und in seiner Stimme klingt zu Recht etwas Stolz mit.

In der Schalker Arena können sich Zuhörer auch spezielle Funk-Kopfhörer ausleihen. Meist haben sie nur einen „Knopf“ im Ohr, um auch die besondere Stadionatmosphäre auf den Rängen genießen zu können.

Viele positive Rückmeldungen

In ihren roten Trikots fallen die Knappen-Kommentatoren an Heimspieltagen inmitten der königsblauen Fans auf. „Wenn ich an der Arena ankomme, gibt es oft ein großes Hallo“, sagt Stimpel – und wertet es als Kompliment für sein ehrenamtliches Engagement. Auch die positiven Rückmeldungen seiner Zuhörer bestärken ihn jedes Mal aufs Neue.

Einmal führte das zu einer kuriosen Situation. Der 67-Jährige, der auch bei der DJK Lenkerbeck im Reha- und Gesundheitssport aktiv ist und sich aktuell zum Übungsleiter im Bereich Lungensport fortbildet, wurde bei einer Einheit von einer Frau angesprochen: „Deine Stimme kenne ich doch?!“ Michael Stimpel konnte die Frage schnell aufklären.

Drei Monitore stehen auf einem Tisch mit und sind an einen Regler angeschlossen. Das gilt auch für einige Mikrofone.
Auf Monitoren verfolgt der 67-Jährige die Auswärtsspiele und vermittelt seinen Zuschauern das Geschehen auf dem Rasen. © Stimpel

Wie wird man Knappen-Kommentar, wenn man doch eigentlich Anhänger von Borussia Mönchengladbach ist, weil man am Niederrhein aufgewachsen ist? So genau nimmt es Michael Stimpel nicht. Er ist nicht nur Fußballfan, sondern vielseitig sportinteressiert. Und wie sooft im Leben spielt eine zufällige Begegnung eine Rolle. „Ich habe den früheren Schalke-Pfarrer Joachim Dohm im Sozialamt getroffen“, sagt er rückblickend. „Er fragte, ob ich Lust hätte, Blindenreporter zu werden.“ Der Hertener hatte – und hat sie nach wie vor.

Anderen Mensch zu helfen oder ihnen eine Freude zu bereiten, all das treibt den 67-Jährigen an. „Ich bin der dienstälteste Blindenreporter“, berichtet Stimpel stolz. Das ist nicht einfach daher gesagt: Einmal im Jahr trifft er einen Großteil seiner rund 250 Kollegen aus dem gesamten Bundesgebiet und tauscht sich mit ihnen bei einem Lehrgang aus.

Zwei Stunden vor Anstoß im Stadion

Gut eineinhalb bis zwei Stunden vor Spielbeginn treffen sich die Blindenreporter mit ihrer Teamleiterin und sprechen sich ab. Zwei sind am Mikrofon im Einsatz, einer im Fanblock bei der Ausgabe der Kopfhörer. „Es macht mir sehr viel Spaß“, sagt Stimpel, der auf zehn bis 13 Einsätze pro Saison kommt - und das nicht nur bei Spielen der Königsblauen. Gerade erst reportierte er bei der Fußball-Europameisterschaft in Gelsenkirchen. Beim Biathlon auf Schalke war er ebenso aktiv, wie auch schon beim Handball-Länderspiel in Düsseldorf gegen Kroatien.

Dort spricht Michael Stimpel ebenso leidenschaftlich ins Mirko wie bei S04-Spielen. „Ich möchte andere am Stadionerlebnis teilhaben lassen.“ Von Sportfan zu Sportfan.