Ein Bild von Pfarrer Niewind als Soldat der Wehrmacht.

© Repro Rademacher

Wie Pfarrer Niewind im Zweiten Weltkrieg das französische Dorf Velesmes rettete

rnPfarrer Niewind

Er wollte nie ein Held sein, ist es aber doch geworden: Pfarrer Niewind hat im Zweiten Weltkrieg ein französisches Dorf vor der Zerstörung gerettet. Und ist in die Geschichte eingegangen.

Olfen

, 18.04.2025, 09:07 Uhr / Lesedauer: 7 min

Diesen Artikel haben wir am 21. April 2019 zum ersten Mal veröffentlicht.

Er sieht bedrohlich aus dieser Lastwagen, der - bis oben hin beladen mit Munition und Sprengstoff - durch das kleine Dorf Velesmes im Osten Frankreichs rollt. Es ist ein Septembertag im Jahr 1944. Der Krieg ist noch nicht zu Ende: Auch wenn die Alliierten schon in Frankreich gelandet sind, die Hauptstadt befreit haben. Immer wieder hören die Bewohner von Velesmes von den blutigen Vergeltungsschlägen der sich zurückziehenden deutschen Truppen. In Oradour zum Beispiel. Seit Juni gibt es das Dorf quasi nicht mehr - die Waffen-SS hat es niedergebrannt. Fast alle Einwohner ermordet.

Angstvoll, sicher auch mit diesem Massaker, das gerade einmal drei Monate zurückliegt, im Hinterkopf, stehen die Einwohner von Velesmes in den Haustüren. Beobachten, wie der deutsche Laster durchs Dorf fährt. Kinder klammern an ihre Mütter. Ein Schleier der Angst liegt über dem Dorf. Angst vor den Deutschen. Dass es ausgerechnet einer von eben jenen ist, der später ihr Dorf vor dem Vergeltungsschlag retten wird, ahnt in diesem Augenblick wahrscheinlich noch niemand.

Kamerad stirbt an seiner Verwundung

Was ist der Grund für die Angst?

Um das zu erklären, muss man ein Stück in der Geschichte zurückgreifen: Einen Tag zuvor war nämlich eine deutsche Sanitätsabteilung auf dem Rückzug etwa drei Kilometer vor dem Ort Velesmes von einem Luftangriff getroffen worden. „Obwohl die Dach- und Seitenflächen unserer Fahrzeuge deutlich sichtbar die Zeichen des Roten Kreuzes trugen und uns als Sanitätskolonne auswiesen“, erklärte der mittlerweile verstorbene Olfener Heinrich Niewind, ein Mitglied dieser Kolonne, viele Jahre später. Sein Bericht über die beiden Nächte im September ist von Karl-Josef Jennebach aufgeschrieben worden.

„Wir hatten einen Toten“, zitiert Karl-Josef Jennebach Heinrich Niewind weiter.

Niewind war bei diesen Ereignissen im September 1944 33 Jahre alt. Ein Priester im Militärdienst. Stammend aus der Bauernschaft Kökelsum in Olfen. „Mein Kamerad hatte im Straßengraben Deckung gesucht. Dort fand ich ihn schwer verwundet. Menschliche Hilfe konnte ihn nicht mehr retten. Als Wilhelm die Augen aufschlug und die Lippen bewegte, beugte ich mich zu ihm und spendete ihm das letzte Sakrament“, so Niewind.

Pfarrer Niewind hat im Zweiten Weltkrieg ein französisches Dorf vor der Zerstörung gerettet.

Pfarrer Niewind hat im Zweiten Weltkrieg ein französisches Dorf vor der Zerstörung gerettet. © Zeichnung: Verena Hasken

Die Soldaten erhalten den Befehl, den Toten in das nächste Dorf - nach Velesmes - zu bringen, dort für seine Beerdigung zu sorgen. „Als wir das Grab schaufelten - zwei hilfsbereite Männer zimmerten einen provisorischen Sarg - sahen wir plötzlich den Friedhof von schwerbewaffneten Partisanen umzingelt“, so die Erinnerung von Niewind.

Die Partisanen - die ihren Ursprung in der französischen Widerstandsbewegung hatten, aber als bewaffnete Kämpfer keiner der regulären Streitkräfte im Krieg angehörten - geben den deutschen Soldaten um Niewind, die deutlich als Sanitäter zu erkennen und unbewaffnet sind, zu verstehen, dass sie nicht um ihr Leben fürchten müssen. „Wir sollten die Arbeit abbrechen“, so Niewind.

Angst vor der Rache der Deutschen

Und dann lassen die Partisanen sie gehen. Anders ergeht es seinen Kameraden, die Velesmes noch nicht erreicht haben. In einem Waldstück beschießen die Partisanen sie. Die meisten können fliehen, vier Verwundete bleiben bei den Widerstandskämpfern in Gefangenschaft, ein Arzt stirbt.

Die Sanitätskolonne sammelt sich in Velesmes, gibt natürlich auch Meldung von den Ereignissen und Verlusten. Das ist der Grund für die angstvolle Stimmung: Was, wenn die Deutschen Rache nehmen? Das Dorf verantwortlich machen?

„Könnt ihr euch vorstellen, wie ernst das für euer Dorf ist?“ Mit dieser Frage - so erinnern sich Zeitzeugen - wendet sich Pfarrer Niewind an den Bürgermeister des Dorfes und an den Pfarrer der Gemeinde. Die Nacht verbringt der Olfener in einem Bauernhaus. „Ständig schlichen verdächtige Gestalten um das Haus, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Die Bewohner des Hauses waren verängstigt und sahen uns misstrauisch an. Darum gab ich den Leuten zu verstehen, dass ich katholischer Priester sei und auch als Sanitäter Freund und Feind in gleicher Weise helfen werde“, so Niewinds Erinnerungen.

Der Olfener Priester Heinrich Niewind gewinnt in der Septembernacht in Velesmes das Vertrauen der Franzosen. Er gibt den Bewohnern des Bauernhauses, in dem er die Nacht verbringt, sogar schriftlich, dass sie ihn und seine Kameraden gut behandelt haben und nichts mit der Gruppe der Partisanen zu tun haben, die die Kolonne angegriffen haben. „Ich war mir dabei wohl des Risikos bewusst, dass mir dieses Schreiben von einem fanatischen und vom Endsieg des Führer überzeugten Kriegsgericht als Defätismus, Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung angelastet werden konnte“, so Niewind. Trotzdem bestätigt er den Franzosen ihr untadeliges Verhalten. Sein Mut geht noch weiter.

Befehl, an dem Dorf Vergeltung zu üben

Dann nämlich, als jener bis zur Plane mit Munition beladene Lastwagen zum Stehen kommt. Der Offizier der deutschen Polizei, der aus dem Wagen aussteigt, hat den Befehl, die Munition im Lastwagen auch zu nutzen, an dem Dorf Vergeltung zu üben. Heinrich Niewind beginnt, mit seinem Landsmann zu diskutieren. Die Bewohner von Velesmes hätten nichts zu tun mit den Angriffen der Partisanen. „Als der Offizier sich jedoch auf seinen Befehl berief, den er auszuführen habe, erklärte ich ihm, dass die Vergeltungsaktion nur unschuldige Zivilisten treffe, weil nie jemand aus dem Dorf sich an der Aktion der ihnen völlig fremden Partisanen beteiligt habe“, so Niewind.

„Er will kein Held sein!": So titelte 1965 die Zeitung "Bildpost", nachdem aufgedeckt war, dass Pfarrer Niewind der gesuchte Retter von Velesmes ist.

„Er will kein Held sein!": So titelte 1965 die Zeitung "Bildpost", nachdem aufgedeckt war, dass Pfarrer Niewind der gesuchte Retter von Velesmes ist. © Repro: Marie Rademacher

Er geht noch weiter: „Auf den Einwand des Polizeioffiziers, es habe als Offizier jedem ihm erteilten Befehl zu gehorchen und ihn auszuführen, antwortete ich, dass die Ausführung eines unmenschlichen Befehls, der sich gegen die Zivilbevölkerung richtete, eines Offiziers unwürdig sei und die Polizei sich schwerster Verbrechen schuldig mache.“ Das saß. Der Offizier lässt sich überzeugen - und die Bewohner von Velesmes können zusehen, wie der Laster ihr kleines Dorf unbeschadet wieder verlässt. Und: Ein Held war geboren. Der Olfener Heinrich Niewind ist als „Retter von Velesmes“ in die Geschichte des französischen Dorfes eingegangen. Auch, wenn er das eigentlich gar nicht so wollte.

17.000 Priester in den Reihen der Wehrmacht

Das, so ist zumindest die Einschätzung von der kanadischen Historikerin Lauren Faulkner Rossi, ist aber nicht unbedingt ein Grund, ihn nicht trotzdem als solchen zu bezeichnen. Lauren Faulkner Rossi hat 2015 das Buch „Wehrmacht Priest“ herausgebracht und darin unter anderem auch die Geschichte des Olfener Pfarrers Heinrich Niewind aufgegriffen. Mehr als 17.000 katholische Priester und Seminaristen waren während des Zweiten Weltkriegs als Soldaten in der Wehrmacht, schreibt sie in ihrem Buch. Niewind, das sagt sie auf Anfrage der Redaktion, sei unter diesen 17.000 ein außergewöhnliches Beispiel. Aus folgendem Grund:

„Niewind hat den Verlauf des Krieges nicht verändert oder eine große Leistung im Widerstandskampf vollbracht. Aber er hat ein ganzes Dorf vor der fast sicheren Zerstörung gerettet. Und er tat das wohl wissend, dass er selbst dafür getötet oder in Gefangenschaft genommen werden könnte. Er hat das Richtige getan. Aber angesichts des hohen Einsatzes, den er gebracht hat, war sein Handeln auch mutig und edel. Für mich ist er ganz deutlich ein Held und ich kann gut verstehen, warum die Menschen in Olfen und Velesmes ihn auch genauso sehen“, erklärt die Historikerin auf Englisch gegenüber der Redaktion.

Der namenlose Held

Das sieht auch Daniel Jourdet so. Er ist der aktuelle Bürgermeister von Velesmes. Auf Anfrage der Redaktion nennt er Pfarrer Niewind auf Französisch eine „Schlüsselfigur“ bei der Rettung des Ortes. Seinem Mut sei es zu verdanken, dass das Dorf nicht zerstört wurde. „Deswegen halten wir noch heute die Erinnerung an Pater Niewind wach“, sagt der erste Bürger von Velesmes. „Wir werden ihm auf ewig dankbar sein.“

Zeuge dieser Erinnerung und Dankbarkeit ist auch ein Fenster in der Kirche Velesmes. 1964 wurde es gefertigt. Zur Beschreibung dieses Fensters heißt es: „Ein Stern, der Maria an ihrem Fest vom 8. September symbolisiert, die unser Dorf durch die Vermittlung eines deutschen Priesters von der Zerstörung durch das Feuer bewahrte, zu dem es verurteilt worden war.“

Ein deutscher Priester. Wer eigentlich genau? Das fragte sich der Künstler, der das Fenster in den 60er-Jahren fertigte auch. Und keiner konnte ihm eine Antwort geben: Zwar waren die Taten des deutschen Pfarrers in Velesmes auch 20 Jahre nach dem Vorfall nicht vergessen, der Name des Deutschen aber nicht überliefert.

Und so begann das Dorf zu suchen. In großem Stil. Der seit 1945 in der Gemeinde aktive Pfarrer Abbé Marcel Remillet wendet sich an den deutschen Botschafter in Paris. Der schaltet das Auswärtige Amt in Bonn ein, es erscheinen Suchanzeigen in Tageszeitungen, Illustrierten und Amtsblättern.

Zeitung titelt „Er will kein Held sein“

Heinrich Niewind, der nach seinem Einsatz in Velesmes an der Schweizer Grenze in Kriegsgefangenschaft geriet, ist längst wieder in der Heimat, arbeitet als Pfarrer in Recklinghausen. „Auch er las im Pfarrhaus die Meldungen. Aber er schwieg“, sagt Heinz Koch.

Heinz Koch ist ein Olfener, der mittlerweile im Rheinland lebt, und in den 50er-Jahren Religionsschüler von Niewind war, den Pfarrer sehr schätzte und bewunderte. Vielleicht auch, weil er in dieser Situation bescheiden blieb und sich nicht mit seinem Tun von damals nach vorne drängelte.

Seinen Ruhestand verbrachte Heinrich Niewind in seiner Heimat: in Olfen. 1981 starb er.

Seinen Ruhestand verbrachte Heinrich Niewind in seiner Heimat: in Olfen. 1981 starb er. © Repro: Marie Rademacher

Es ist ein Telegramm auf dem Schreibtisch der Redaktion der Zeitung „Bildpost“, das im Januar 1965 den Helden enttarnt. Zumindest schreibt die Zeitung auf der Seite 1: „Ein Bildpost-Leser fand die Spur.“ Und zitiert das Telegramm: „Retter ist Dechant Niewind, Recklinghausen-Süd.“ Kurz und knapp. Noch immer schweigt Niewind. Doch die Bildpost ruft ihn an, hakt nach. Nach einem tiefen Seufer, so steht es in dem Artikel, gibt Niewind seine Taten zu. „Jetzt wollen Sie aus mir einen Helden machen? Ich habe getan, was jeder vernünftige andere Mensch in meiner Lage auch getan hätte“, sagte er damals. Ein Zitat, das wohl zu den groß gedruckten Überschrift „Er will kein Held sein!“ führte.

Tja: Er wollte kein Held sein, wurde es aber dennoch. Ganz offiziell verlieh ihm Velesmes 1965 den Ehrentitel „Retter der Gemeinde“. Heinrich Niewind reist auch noch einmal in das französische Dorf, übt sich aber weiter in Bescheidenheit. „Ihr überschätzt meine damalige Handlungsweise. Es war ganz einfach meine Pflicht als Christ und Priester, einen unsinnigen Racheakt zu verhindern“, lautet ein Zitat von Heinrich Niewind, das von diesem Besuch überliefert ist.

Eine Freundschaft in Zeichen des Friedens

Heinz Koch hat dieses Zitat in seinen Akten, genauso wie der Olfener Christoph Kötter. Wie viele andere Olfener pflegen die beiden seit dem Tod von Heinrich Niewind im Jahr 1981 die Freundschaft zu dem französischen Dorf Velesmes. Wie das alles zustande kam, ist eigentlich ein Kapitel für sich. Kurz zusammen gefasst: Ein kleine Delegation aus Velesmes reist zu der Beerdigung des Pfarrers nach Olfen. Heinz Koch und andere Olfener knüpfen erste Kontakte. 1984 - 40 Jahre nach den eigentlichen Ereignissen - kommt zum ersten Mal offiziell eine Gruppe aus dem französischen Ort nach Olfen, wird im Rathaus empfangen. Es folgt ein Gegenbesuch. Und so geht es immer weiter mit den gegenseitigen Besuchen - bis heute. „Avec un immense plaisir“, also mit großer Freude, denkt so auch der Bürgermeister Daniel Jourdet an den Besuch der Olfener in diesem Jahr - 75 Jahre nach der Rettung. Im Laufe der Jahre, so erzählen es Heinz Koch und Christoph Kötter, die auch wieder mit nach Frankreich reisen werden, sind Freundschaften entstanden. Freundschaften, die für den Frieden stehen. Das hätte Heinrich Niewind sicher gefallen.

Weniger gefallen hätte ihm aber mit ziemlicher Sicherheit, als Retter von Velesmes bezeichnet zu werden. Als Würdigung seiner Taten haben das aber auch schon in der Vergangenheit viele Medien getan - davon zeugt ein ganzer Aktenordner mit Zeitungsausschnitten im Hause Niewind in Kökelsum. Seine Familie hat sie gesammelt, erzählt Susanne Budde-Niewind, die den Großonkel ihres Mannes auch noch kennengelernt hat. „Er war jemand“, sagt sie, „der den Menschen immer sehr zuwandt war.“ Also eigentlich kein Wunder, dass sich die Menschen in Olfen und Velesmes im Rückblick auch immer wieder ihm zuwenden, dem Retter von Velesmes.