Medienpädagoge zum Tod von Elias (15) in Olfen „Wir haben die Kontrolle verloren“

Medienpädagoge zum Tod von Elias (15): „Wir haben die Kontrolle verloren“
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Der Tod des 15-jährigen Elias aus Olfen hat über die Stadtgrenzen hinaus für Bestürzung gesorgt. Der Junge starb, nachdem er immer wieder Deo einatmete und schließlich durch das Gas Butan ums Leben kam. Dieser Trend kursiert aktuell im sozialen Netzwerk TikTok: Etliche Jugendliche beteiligen sich an der Mutprobe. Elias sei kein Einzelfall, sagt der Dortmunder Medienpädagoge Daniel Schlep. Wir haben mit ihm über die Gefahren von TikTok und darüber gesprochen, welche neuen Erziehungsfragen sich Eltern und Schulen stellen müssen.

Herr Schlep, wer die Berichterstattung aufmerksam verfolgt, hört immer wieder von TikTok-Challenges, die für Jugendliche tödlich enden. Ist TikTok gefährlicher als andere soziale Medien?

Ganz klar nein. Solche Mutproben können in jedem anderen Sozialen Netzwerk genauso vorkommen, bei Facebook sind Challenges zum Beispiel ebenso möglich. Aber TikTok hat ein Konzept, das solche Mutproben unterstützt. Es kann solche Challenges speziell befeuern, besonders durch die Schnelligkeit, die im Netzwerk herrscht. Bei TikTok ist alles sehr schnell, es geht um Trends und darum, dass man mitmacht.

Warum machen Jugendliche eigentlich Mutproben?

Mutproben gibt es schon immer, in jeder Generation. Das ist etwas ganz Menschliches. Es gibt aber einen deutlichen Unterschied zwischen den Jahrgängen. Vor 50 Jahren ohne Internet haben nur einige wenige Menschen dabei zugesehen, wenn ein Jugendlicher eine Mutprobe gemacht hat. Heute schauen deutlich mehr Menschen zu, wenn die Mutproben auf den Social-Media-Kanälen verbreitet werden. Das ist ein ganz anderer Druck für die Jugendlichen. Und jetzt, durch die Berichterstattung, kommen diese Mutproben und deren Gefahr bei den Leuten an. Das Kind ist aber bereits in den Brunnen gefallen. Jetzt geht es darum, Leben zu retten.

Was muss man Kindern und Jugendlichen mitgeben, um sie vor gefährlichen Trends zu schützen?

Trends sind zuerst einmal immer fragwürdig. Denn hier laufen Menschen meist einfach in der Herde mit und reflektieren nicht. Ich selbst habe lange mit bekannten Firmen im Marketing gewirkt und weiß, wovon ich spreche. Es ist wichtig, dass speziell Schulen und Familien den Kindern und Jugendlichen Rückgrat beibringen und vorleben, dass man nicht überall dabei sein oder mitlaufen muss.

Elias wurde nur 15 Jahre alt. Der Olfener starb in Folge einer TikTok-Challenge.
Elias wurde nur 15 Jahre alt. Der Olfener starb in Folge einer TikTok-Challenge. © privat

Erziehung hat lange so funktioniert, dass Eltern ihr Wissen an die Kinder weitergeben. In Sachen Social Media funktioniert das mittlerweile aber nur bedingt. Vor welchen Herausforderungen steht die Erziehung nun?

Das ist richtig. Das Thema wird oftmals falsch eingeschätzt. Viele Eltern haben überhaupt kein Wissen und keine Kontrolle darüber, was ihre Kinder im Internet machen, ihnen sind die Zügel entglitten. Eltern müssen jetzt endlich aufwachen. Sie hinterfragen Smartphones und Social Media nicht oder wollen sich damit auch nicht beschäftigen. Viele sagen, sie hätten keine Zeit dafür. Einige Eltern leben ihren Kindern den Konsum einfach vor und erziehen ihre Kinder auch zu unreflektierten Konsumenten.

Was können oder müssen Eltern konkret tun?

Sie müssen sich mit dem Thema beschäftigen. Man kann sich an vielen Stellen dazu einlesen und Informationen einholen. Eltern müssen wissen, mit welchen Suchtspiralen Social Media arbeitet – ein wichtiger Begriff dabei ist „Dopamin“. Und Eltern müssen sich gemeinsam austauschen, das ist ganz wichtig. Aber im Mittelpunkt steht, dass sich jeder von sich aus mit dem Thema auseinandersetzt, damit die Kinder geschützt sind und wir die Zukunft vernünftig gestalten können. Klar ist, Eltern sind nie allein schuld, wenn ein TikTok-Trend tödlich endet. Es ist das Versagen der gesamten Gesellschaft.

Nicht nur privat, auch in der Schule sind Kinder mittlerweile digital unterwegs. Geht hier das Verschlafen weiter?

Auf jeden Fall. Man fördert Smartphones im Unterricht, setzt Kindern iPads vor und ermöglicht teilweise viel zu freien Zugang zum Internet. Aber man bringt ihnen auch hier den Umgang nicht bei. Das liegt vor allem daran, dass die Lehrer und das Schulsystem selbst keine echte Medienkompetenz besitzen – auch, wenn das immer behauptet wird.

Man könnte meinen, Ihnen missfällt, dass die Technik in den Schulen so präsent ist?

Nein. Wir sollten digitale Medien erklären und nutzen, aber ohne Konsumdressur und stattdessen mit Aufklärung. Es gibt auch gesunde Digitalisierung. Mit Apps weit entfernt von denen, die den Markt dominieren. Diese unterliegen zum Beispiel nicht den von vielen Anbietern bewusst konstruierten Abhängigkeiten und Suchtspiralen. Vieles vom Inhalt, der auf TikTok kursiert, ist unheimlich schnell. Auf die Kinder prasselt eine Unmenge an Inhalt ein. Das können die Gehirne gar nicht verarbeiten.

Die Digitalisierung hat das Leben so stark verändert, aber die Schule hat sich in den vergangenen Jahren nicht mit verändert. Die Kinder werden in der Schule in die Richtung gelenkt, sich den Mechanismen von sozialen Medien zu unterwerfen. Auch Lehrer nutzen vor den Kindern unreflektiert Smartphones, WhatsApp oder YouTube und argumentieren, das mache ja jeder, daher mache man mit.

Also dreht sich auch in der Schule alles um Aufklärung. Wie wäre es mit einem Schulfach Medienkompetenz?

Ja, das ist korrekt. Wir brauchen echte Medienkompetenz beim Lehrpersonal, die haben wir aktuell nicht – es herrscht privates Konsumwissen. Auch in den Klassenzimmern gilt: Wir haben nichts unter Kontrolle. Mit einem Schulfach bin ich zurückhaltend, es betrifft jeden Lehrer, nicht nur einzelne, die ein solches Fach unterrichten würden. Und man muss es weniger als Fach sehen, immerhin begleitet uns die Auswirkung der Digitalisierung wahrscheinlich noch Jahrhunderte, sie ist eine historische Zäsur. Das scheint aber noch nicht angekommen zu sein. In den Schulen gibt es Projektwochen, da beschäftigt man sich ein paar Tage mit Mobbing im Internet und denkt, damit sei es getan. Das reicht aber bei weitem nicht aus.