Die Atomkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 ist eine der größten Katastrophen der Zeitgeschichte. Seitdem leben dort kaum Menschen. Prypjat, eine Stadt in der Nähe, wurde zu einer Geisterstadt. Dort hatten viele der Kraftwerk-Arbeiter gewohnt. Grund genug für Holger Timmerhinrich (44) aus Olfen, 2018 dorthin zu fahren. Timmerhinrichs Bilder werden derzeit im Olfener Kunst- und Kulturverein ausgestellt. Er erinnert sich: „Das war ein apokalyptisches Gefühl, in einer Stadt zu stehen, in der niemand mehr wohnt. Man konnte das kaum realisieren. So eine Stadt verlassen zu sehen, das war schon sehr unwirklich.“
Ganz anders war sein Gefühl im kleinen Ort Tschernobyl selbst. Über Warschau und Kiew ging es mit einer Reisegruppe mit dem Bus in Richtung des ukrainischen Reaktors. „Das erste Aussteigen war schon ein bisschen gruselig“, erinnert sich der Olfener: „Wir standen da, haben gerochen und dachten uns: ‚Es riecht normal hier. Es fühlt sich normal an.’ Man hatte einfach keine Möglichkeit, die Strahlung zu begreifen. Man sah sie nicht, man fühlte sie nicht, man konnte sie nicht hören, gar nichts.“
Gute Luft und Naturschutzgebiet
Der erste Eindruck von Tschernobyl überraschte den Olfener. Mittlerweile ist der Ort eine Art Naturschutzgebiet und alles wird der Natur überlassen, die sich das urbane Gebiet wieder zurückholt. „Das war das Tückische an der Sache. Man fühlte sich wohl, die Natur war sehr schön und auch die Luft war klar und frisch“, erklärt der 44-Jährige, der die Situation als surreal beschreibt. „Man wusste, dass man in einem Katastrophengebiet steht, wo bis vor ein paar Jahren das Leben fast gar nicht möglich war. Jetzt liefen hier Menschen herum und machten Fotos“, erzählt der Fotograf.
In diesem Moment waren die Dosimeter entscheidend, die jeder in der Gruppe bei sich trug. Diese messen die Strahlung und fangen an zu piepen, wenn sich die Strahlung erhöht. „Da hatte man erst mal realisiert, dass man überhaupt in einem Gebiet war, in dem noch Strahlung sein könnte“, sagt Timmerhinrich. Zwar sei die Strahlung allgemein nicht so hoch gewesen, da vieles durch den sogenannten „Sarkophag“, der über den Reaktor gebaut wurde, abgeschirmt wurde, aber es gab dennoch einige Problemstellen. Ein Gruppenführer erklärte der Gruppe laut Timmerhinrich: „In den Wäldern gab es ein bisschen Strahlung, aber im Moos war sie noch stark vorhanden.“ „Deswegen hat er immer gesagt, wir sollen nicht auf dem Moos herumtrampeln“, so Timmerhinrich. Außerdem wurden die Menschen angehalten, keine Rucksäcke auf dem Boden abzustellen.

Geisterstadt Prypjat
Zwei Nächte verbrachte die Gruppe in einem Hotel in Tschernobyl. Eigentlich wollten sie am ersten Tag in die Geisterstadt Prypjat. Doch an diesem Tag gab es dort einen Polizeieinsatz wegen sogenannter „Stalker“. Das sind Menschen, die sich illegal in der Sperrzone aufhalten. Deswegen gingen Timmerhinrich und die anderen erst am zweiten Tag in die Stadt, die zum Zeitpunkt der Katastrophe Heimat für rund 50.000 Menschen war. Die Stadt ist komplett umzäunt und wird durch einen Checkpoint bewacht. „Da gab es haufenweise Plattenbauhäuser, zwei Schulen und mindestens vier Kindergärten. Dann gab es ein Hotel und einen Gemeindesaal“, erinnert sich Timmerhinrich.
Dort lebte jedoch niemand mehr, mit Ausnahme der Stalker, die dort teilweise eine Nacht verbringen, wie der Olfener erklärt. „Es gab einen Supermarkt im zentralen Bereich. Alles, was auf diesen hinwies, waren alte Schilder. Die Kühltruhen, die früher dort standen, wurden alle geklaut. Metall war ein kostbares Gut“, erzählt Timmerhinrich.

Ein immer wiederkehrendes Motiv auf seinen Bildern sind Gasmasken, die die Anwohner zur Vorbereitung eines Atomkrieges während des Kalten Krieges bekommen hatten, wie der Olfener erzählt. „Ich wusste gar nicht, dass es Masken für Kinder gab“, sagt er. Überall wurde man damit konfrontiert. In einer alten Schule, vermutlich in der früheren Mensa, lagen Dutzende davon verstreut auf dem Boden. Kleidungsstücke oder Ähnliches durften nicht angefasst, geschweige denn mitgenommen werden.
In dem dortigen Krankenhaus spielt sich auch eine Szene aus einer bekannten Serien-Verfilmung ab, in der die Krankenschwestern alle Uniformen in den Keller schmeißen. „Das war wirklich so, die haben den Keller später zugeschüttet. Es gibt leider immer wieder Stalker, die versuchen, dort hineinzukommen. Teilweise schaffen sie es und bringen Dinge mit nach oben“, sagt der Fotograf.
Aber auch in Prypjat zeigte sich, wie die Natur sich das Gebiet zurückholt. Viele Bäume wachsen zwischen den Hochhäusern. Die Stadt liegt mittlerweile in einem Wald.

Leben in Tschernobyl
Ganz anders sieht das Leben in Tschernobyl aus. Dort leben Menschen, gehen ihrer Arbeit nach und bauen teils Gemüse im Garten an – auch wenn es eigentlich nicht erlaubt ist. Timmerhinrich hatte die Möglichkeit, ein älteres Ehepaar kennenzulernen. Zum Zeitpunkt des Besuches war der Mann 94, seine Frau 91 Jahre alt. Direkt nach der Katastrophe sei das Ehepaar wieder zurück zu ihrem Häuschen gegangen. „Die hatten keine Probleme wegen Krebs oder Ähnlichem“, sagt er.
Während des Aufenthalts besuchte die Gruppe außerdem die „Duga-Radaranlage“, eine 150 Meter hohe und fast einen Kilometer lange Abhöranlage, sowie das Kraftwerk samt Reaktor, der die Katastrophe verursachte. Für den Olfener war es ein besonders emotionaler Moment, als sie an dem Sarkophag angekommen waren: „Wir sind ausgestiegen und nah an den Reaktor herangegangen. Das hat einen demütig gemacht. Man spürte auch Mitleid mit den Opfern.“
Als Timmerhinrich die Sperrzone wieder verlassen wollte, musste er durch einen Strahlungsdetektor. „Das war ein grünes Gerät aus Sowjetzeiten. Wenn eine Lampe grün leuchtete, konnte man an der Seite hinausgehen“, erzählt er. Bei rotem Licht werden erst die Schuhe ausgezogen. Reicht das nicht, muss man die übrige Kleidung ausziehen. „Sollte es dann immer noch ausschlagen, hatte man ein Problem. Dann würde man in ein Krankenhaus gebracht werden“, erzählt der 44-Jährige. Das sei laut dem Gruppenführer allerdings noch nie vorgekommen.

Reize der Lost Places
Eine weitere Besonderheit an Tschernobyl: Ab 22 Uhr galt eine Sperrstunde. Niemand durfte das Haus oder das Hotel verlassen. Angst wegen der Strahlung hatte der Olfener aber nie. „In unserer Whatsapp-Gruppe schrieb eine Teilnehmerin aus Dresden später, dass ihr Dosimeter auf ihrem Flug nach Mexiko mehr Strahlung gemessen hätte als während unserer Zeit in Tschernobyl“, erzählt Timmerhinrich. Eigentlich hatte er vor, nochmals nach Tschernobyl zu reisen, doch wegen des aktuellen Krieges hat er diese Reise bisher nicht gemacht.
Zu Hause, das ist für Timmerhinrich Olfen. Er selbst bezeichnet sich als „Ur-Olfener“, ist dort geboren und aufgewachsen. Erst mit 29 Jahren zog er um, mittlerweile wohnt er in Seppenrade. Seit 2012 fotografiert er „Lost Places“. Angefangen hat er damit in Dortmund. „Die Verwitterung und das Zurückkommen der Natur, das ist, was den Reiz ausmacht“, sagt er. Die Entscheidung, selbst in die Ukraine zu fahren, fasste der 44-Jährige, nachdem er immer wieder Bilder und Videos von anderen gesehen hatte, die in Tschernobyl waren. „Meine Frau war ein bisschen überrascht und irritiert, aber sie hat dann ihr Einverständnis gegeben“, erzählt er. Schon davor interessierte die Katastrophe den Olfener, indirekt betraf sie ihn nämlich selbst. „Ich war damals im Kindergarten. Von einem auf den anderen Tag durften wir nicht mehr im Sandkasten spielen und keinen Kakao oder Milch trinken. Ich weiß noch, wie wir Wasser mit Milchpulver als Ersatz getrunken haben“, erzählt er.
Gebucht hat er seine Reise dann über ein Internetportal. Aktuell werden dort laut dem Olfener wegen des Krieges aber keine Touren nach Tschernobyl angeboten. Neben seiner Tätigkeit als Fotograf arbeitet er als Lagerist in einem Schuhgeschäft in Olfen. Als Nächstes stehen jedoch weder eine Reise noch andere Besuche von Lost Places an: Der 44-Jährige und seine Frau erwarten demnächst ein Kind und Holger Timmerhinrich wird in Elternzeit gehen.
Ausstellung in Olfen
Die Bilder der Lost Places und von Tschernobyl werden vom 13. April bis zum 29. Juni in Olfen beim Kunst- und Kulturverein ausgestellt. Jeweils sonntags von 11 bis 13 Uhr können die Bilder betrachtet werden. Zum Jahrestag findet am Samstag (26. April) von 16 bis 18 Uhr im Olfonium, Neustraße 17, eine Sonderveranstaltung statt. Der Eintritt ist frei.