Diskriminiert, schikaniert, ermordert Die Geschichte der letzten jüdischen Familie Olfens

Diskriminiert, schikaniert, ermordert: Die Geschichte der letzten jüdischen Familie Olfens
Lesezeit

Als Erich Simons am 29. März 1933 zur Arbeit geht, ahnt er noch nicht, dass sich sein Leben schlagartig ändern sollte. Erich Simons ist gebürtiger Olfener, wohnhaft in Münster und Rechtsanwalt. An diesem Tag kommt er aber nicht ins Gerichtsgebäude. Davor stehen Wachleute der sogenannten Sturmabteilung (SA) der Nationalsozialisten. Sie versperren ihm den Weg, machen ihm klar, dass er dort nicht mehr erwünscht ist und sorgen auch dafür, dass seine Klienten nicht mehr zu ihm kommen können. Wenig später wird „nicht arischen“ Beamten verboten, ihre Arbeit weiter auszuführen.

Lotte und Ernst Simons, die Kinder von Erich Simons.
Lotte und Ernst Simons, die Kinder von Erich Simons.

Für die SA-Wachtruppen ist Erich Simons weder Olfener noch Münsteraner oder Deutscher. Auch, dass er einen sechsjährigen Sohn hat und seine Frau gerade mit einem Mädchen schwanger ist, interessiert sie nicht. Sie reduzieren ihn nur auf eins: Für sie ist er ein Jude.

In den 1930er-Jahren erlassen die Nazis zahlreiche Gesetze, die Juden ausschließen, diskriminieren und ihnen ihre Lebensgrundlage entreißen. All das findet seinen traurigen Höhepunkt in einer Nacht 1938. In der sogenannten Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November zündeten Nationalsozialisten und ihre Anhänger Synagogen an, schlugen die Scheiben von Geschäften jüdischer Unternehmer ein und zerstörten jüdische Friedhöfe. Diese Nacht markiert den Übergang von einer Diskriminierung der Juden zu ihrer systematischen Verfolgung. Auch für Erich Simons ist das sofort zu spüren. Nach dem Pogrom müssen er und seine Familie in ein sogenanntes „Judenhaus“ in Münster ziehen. Außerdem muss er 23.000 Reichsmark „Judenvermögensabgabe“ entrichten.

Jeder 20. Olfener Jude

Die jüdische Gemeinde in Olfen war einmal eine der größten in der damaligen Gemeinde Lüdinghausen. Im Jahr 1816 war jeder 20. Olfener Jude. Oder wie es Gertrud Althoff in ihrem Buch „Geschichte der Juden in Olfen“ beschreibt: „Juden waren dort sowohl zahlreicher als auch bekannter als die erst in der Preußenzeit neu ins Blickfeld tretende evangelische Minderheit.“ Von 1790 bis 1880 gab es sogar eine jüdische Privatschule, die die jüdischen Kinder gemäß den Regeln der Thora unterrichten konnte. Die zweite Olfener Synagoge (die erste war beim großen Brand von 1857 ein Opfer der Flammen geworden) war ein prächtiges Bauwerk und spiegelt die Größe der Gemeinde wider. „Sie war wesentlich größer als die, die man jetzt aus Bork kennt“, sagt Bernhard Wilms vom Heimatverein Olfen.

Mit der Wende zum 20. Jahrhundert verlassen viele Juden allerdings Olfen. „Der Trend ist in allen kleinen Orten des Münsterlandes zu beobachten“, sagt Bernhard Wilms, „die Ursachen liegen darin begründet, dass ab 1869 die Juden auch zu akademischen Berufen zugelassen werden.“ Es ziehe viele Juden daher in größere Städte, wo bessere Bildung möglich ist. Dass Olfen außerdem nicht an einen Bahnhof angeschlossen wurde, habe ebenfalls eine Rolle gespielt, glaubt Bernhard Wilms. So wurde im Jahr 1918 auch die jüdische Synagoge abgerissen, da es zu wenig Gemeindemitglieder gab. Zuvor wurde sie mit Einverständnis der jüdischen Bevölkerung oft genutzt, um Korn zu lagern, wenn die Olfener Bauern eine nasse Ernte hatten und nicht wussten, wohin damit.

Der jüdische Friedhof in Olfen
Der jüdische Friedhof in Olfen

So gab es in der Reichspogromnacht auch keine Gewalt gegen Juden. „Es gab ja keine Juden mehr“, erklärt Bernhard Wilms. Mit Therese Helene Simons, der Mutter von Erich Simons, die im Jahr 1933 nach dem Tod ihres Mannes nach Münster zog, war die letzte Jüdin aus Olfen verschwunden.

„Zwar gab es keinen Boykott von Geschäften jüdischer Besitzer“, so schreibt es Gertrud Althoff, „aber ein ‚Stürmer Kasten‘ war zur ‚Belehrung‘ von Jung und Alt dennoch vorhanden und zeigte, wie ‚die Juden‘ aussahen.“ „Die Juden in Olfen fühlten sich nicht nur erklärtermaßen als Olfener, sondern waren es wirklich“, so Althoff weiter, „die Tragik bestand offenbar darin, dass die christlichen Olfener ihnen gegenüber mehr Fremdheit als Zuneigung hegten.“ Erich Simons wurde 1944 in Auschwitz ermordet, genauso wie seine Frau Elfriede und Tochter Lore. Sein Sohn Ernst starb 1945 im KZ Dachau. Einzig Erichs Bruder Albert überlebte den Krieg. Er hatte sich frühzeitig nach Tel Aviv gerettet und brachte es dort als Arzt zu Ruhm, der sich mit dem Thema Röntgenstrahlung beschäftigte. „Er ist der berühmteste Olfener“, sagt Bernhard Wilms. Und dennoch bleibt von ihm und seinem Bruder Erich und den anderen Olfener Juden nichts mehr. Außer die Erinnerung.

Anmerkung der Redaktion: Diesen Text haben wir erstmals am 9. November 2018 veröffentlicht.

Die beiden Eckhäuser gehörten bis 1928 der Familie Simons - der letzten jüdischen Familie in Olfen. Albert Simons wurde hier geboren.
Die beiden Eckhäuser gehörten bis 1928 der Familie Simons - der letzten jüdischen Familie in Olfen. Albert Simons wurde hier geboren. © Foto: Theo Wolters