Nach Reh und Maulwurf ist 2021 der Otter das Wildtier des Jahres: ein scheuer Einzelgänger, der in NRW schon ausgestorben war. Bei seiner Rückkehr wird ihm eine seltsame Phobie zur Gefahr.
Ausgerechnet der Tod steht am Anfang der Erfolgsgeschichte. 2009 kommen zwei Tiere auf viel befahrenen Straßen bei Dülmen unter die Räder: das eine auf der A 43, das andere auf der L 600. Ein trauriges Schicksal, das sie mit zahllosen anderen Wildtieren teilen. Als Straßenwärter die Kadaver wegräumen, halten sie aber inne. Denn solche Tiere hatten sie noch nie gesehen. Konnten sie auch gar nicht. Denn Otter waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit 60 Jahren ausgestorben in NRW.
Dülmener Seenplatte bietet Lebensqualität für Otter
Sollte es etwa noch mehr Tiere geben? Niels Ribbrock gehört zu denen, die sich gleich auf die Suche machen. In der Gegend westlich von Dülmen müssten sich Otter eigentlich wohl fühlen, meint der Leiter der Biologischen Station Recklinghausen. Denn in der Heubachniederung zwischen den Kreisen Borken, Recklinghausen und Coesfeld liegt die sogenannte Dülmener Seenplatte: mehrere Teiche mit einer Gesamtgröße von 120 Hektar. Und was aus Ottersicht das beste ist: In einem Teil davon lässt der Herzog von Croÿ Karpfen züchten.
Tatsächlich. Erst finden die Naturschützer Trittspuren: die Abdrücke von fünf kleinen Zehen im Morast. Dann seltsam süß-fischig riechende Kothäufchen. Schließlich auch Fotos. Wildkameras haben Aufnahmen gemacht von Tieren mit flachen, breiten Köpfen, Knopfaugen, kräftigen Schnurrbärten und langen Körpern. Nur in Schwarz-Weiß und meistens unscharf, weil die Fotomotive auf ihren kurzen Beinen wieselflink unterwegs sind. Dennoch: Es sind eindeutig Otter - dieses Mal quicklebendige. Und sie sind gekommen, um zu bleiben, wie Ribbrock inzwischen weiß.

Dieses Foto von einer Wildkamera entstand 2015 bei Hausdülmen. © Biostation RE
„Das ist schon ein Highlight in meinem Berufsleben“, sagt der Landschaftsökologe, der inzwischen als Otter-Experte gilt. Einer ausgerotteten Art bei der Rückkehr zusehen zu können, hätte er zu Anfang seiner Laufbahn nicht zu träumen gewagt. Dass sich inzwischen auch andere Arten - etwa Biber und Wolf - anschicken, wieder heimisch zu werden in NRW, tut Ribbrocks Freude darüber keinen Abbruch. Denn die Gesamtbilanz sieht immer noch bescheiden aus.
45 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten auf der roten Liste
45 Prozent aller Arten - Tiere und Pflanzen - stehen laut Naturschutzbund Deutschland (Nabu) in NRW mittlerweile auf der Roten Liste und sind damit akut vom Aussterben bedroht. Kiebitz und Feldlerche könnten schon in zwei Jahren völlig verschwunden sein. Und die Erfolgsgeschichte mit dem Otter steht auch noch ganz am Anfang. Zwar hat sich das Ottergebiet inzwischen ausgedehnt - vom Dülmener Heubachtal in Richtung Norden zur Berkel und Dinkel und im Süden zur Stever und Lippe - , aber es gibt noch jede Menge zu tun. „Zweidrittel des Landes sind noch nicht besiedelt“, sagt Niels Ribbrock. Eine geheimnisvolle Phobie der Tiere sorgt dabei für Probleme.

Niels Ribbrock, der Leiter der Biostation Recklinghausen, ist inzwischen Otter-Experte. © Jürgen Wolter
Otter haben Angst vor Brücken. Sie schwimmen nicht unter ihnen hindurch. Zumindest nicht, wenn die Brückenpfeiler im Wasser stehen, ohne trockene Uferstreifen links und rechts. Theoretisch könnten die Tiere natürlich elegant und lautlos, wie es ihre Art ist, im Wasser bleiben, die Luft anhalten - das geht bei ihnen bis zu sieben Minuten lang - und abtauchen, bis das offenbar unheimliche Bauwerk hinter ihnen liegt. Tun sie aber nicht. Stattdessen gehen sie lieber ans Ufer, klettern den Damm hoch und queren die Straße.
Ungelöstes Rätsel: Warum passieren Otter keine Brücken?
Nicht selten kommen sie aber nie auf der anderen Seite an. „Der Straßenverkehr“, sagt Ribbrock, „ist der größte Feind der Tiere“. Und der setzen sie sich oft aus. Denn ihre große Wanderleidenschaft lässt sie jede Nacht beträchtliche Strecken zurücklegen: 3 bis 25 Kilometer pro Nacht. Junge Männchen, also Rüden, sind besonders gefährdet. Denn die Größe ihres Streifgebietes kann bis zu unvorstellbare 90 Kilometer eines Flusslaufes betragen. Da gibt es zwischendurch viele gefürchtete Brücken und weniger gefürchtete Straßen. Warum sich die Tiere in diese Lebensgefahr begeben, weiß niemand. Wie ihnen zu helfen wäre, aber schon.

Eine besondere Hinterlassenschaft: Otter kommunizieren über ihre Kot-Losungen. © Biologische Station RE
Die Lösung sind sogenannte Bermen: künstliche Uferstreifenunter den Brückenbauwerken. Auf einer Art Laufsteg können die Otter dann trockenen Fußes und vor allem sicher das für sie sonst offenbar unheimliche Hindernis passieren. Dass das klappt, hat die Deutsche Umwelthilfe in Thüringen erprobt und einen entsprechenden Handlungsleitfaden erarbeitet. Den möchten auch die Otterschützer in NRW nutzen, allerdings fehlt noch das Geld. Außerdem wollen sie sichere Korridore schaffen, damit die putzigen Raubtiere aus dem Westmünsterland in andere Ottergebiete wechseln können in Nord- und Ostdeutschland. Oder nach Hessen, wo gerade die Wiederbesiedelung beginnt. Oder auch weiter nach Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und dem Saarland, wo sich die bis zu 1,20 Meter langen und 30 Zentimeter hohen Tiere noch gar nicht wieder blicken gelassen haben.
Etwa 50 Tiere in NRW, fast alle im Münsterland
Um zu erfahren, welches Tier wohin wandert, statten Ribbrock und seine Kolleginnen und Kollegen die Otter nicht mit Sendern aus. Das sei bei einer noch derart kleinen Population - in ganz NRW gibt es gerade einmal 50 Tiere, fast alle im Westmünsterland - ein Eingriff, der lieber vermieden werde. Sie identifizieren die einzelnen Individuen durch Hinterlassenschaften: die sogenannten Otter-Losungen. Eine genetische Analyse verrät, in welchem Verwandtschaftsgrat die Tiere zueinander stehen.
Die Chance, einen Otter zu sehen, ist klein
Dass sich die Tiere in den Kreisen Borken, Recklinghausen und Coefeld bereits vermehrt haben, ist daher bekannt. Wo genau die Kinderstube lag, aber nicht. Ob schon Jungtiere in der Steveraue in Olfen zur Welt gekommen sind, muss daher Spekulation bleiben. Dass dort regelmäßig Otter herumstreifen, ist aber sicher. Sie je zu Gesicht zu bekommen, hält Niels Ribbrock aber für nahezu ausgeschlossen. Dafür seien die Reviere einfach zu groß. Aufmerksame Spaziergänger könnten aber auf jeden Fall Spuren entdecken.

So sehen die Fußspuren des Otters aus. © Biiologische Station RE
Heute lesen Menschen diese Otterspuren, weil sie das geheime Leben des Wildtieres fasziniert, das so schnell dahinhuscht: Im Wasser ist es immerhin mehr als sieben Stundenkilometer schnell, an Land mehr als 25. Früher war das anders.
Otterjagd wurde erst verboten, als es zu spät war
Seit dem Mittelalter durften Christen in der Fastenzeit nur eine Mahlzeit am Tag zu sich nehmen - allerdings kein Fleisch. Verstöße waren strafbar. Um die religiösen Vorschriften zu erfüllen und trotzdem nicht auf den Braten verzichten zu müssen, haben wohlhabende Menschen Otter einfach zu Fischen erklärt. Schließlich hätten sie auch Schwimmhäute. Enten, Frösche und Biber kamen mit demselben Argument in den Topf.

Zwei Fischotter spielen im Wisentgehege. Otter sind eigentlich Einzelgänger. Nur während der Paarungszeit verbringen zwei Tiere viel Zeit miteinander. © picture alliance/dpa
Unbarmherzige Jagd auf Otter haben Menschen aber nicht wegen des Fleisches gemacht, sondern wegen Fells. Kein anderes Fell ist so wasserabweisend wie ihres. Keines so dicht. Im Gegensatz zu Walen und Robben haben Fischotter keine Fettschicht, sondern dieses Super-Fell, das sie vor Nässe und Kälte schützt. „Auf einem Quadratzentimeter Haut befinden sich bei ihnen bis zu 70.000 Haare“, teilt die Umweltschutzorganisation WWF mit: „Der Mensch hat dagegen auf gleicher Fläche im Durchschnitt nur 200 Haare auf dem Kopf.“
Dass sich die Otter vor allem von Fischen ernähren - tatsächlich muss jedes erwachsene Tier am Tag ein Kilogramm fressen- , hat sie zudem zu lästigen Konkurrenten gemacht. Als es 1968 in Deutschland verboten wurde, Otter zu jagen, war es schon zu spät. Nicht zuletzt die schlechte Wasserqualität und die Zerstörung des Lebensraums hatten den Otter verschwinden lassen. Bis jetzt.

Der Otter ist zurück im Westmünsterland. An sechs Kilometern gut begehbaren Wegen (auch für Rollstuhlfahrer) beherbergt der Biotopwildpark Anholter Schweiz in Isselburg neben 40 Arten einheimischer Tiere auch ihn. Wegen des Lockdowns muss auch der Park geschlossen bleiben. © ©Biotopwildpark Anholter Schweiz
Leiterin des Medienhauses Lünen Wer die Welt begreifen will, muss vor der Haustür anfangen. Darum liebe ich Lokaljournalismus. Ich freue mich jeden Tag über neue Geschichten, neue Begegnungen, neue Debatten – und neue Aha-Effekte für Sie und für mich. Und ich freue mich über Themenvorschläge für Lünen, Selm, Olfen und Nordkirchen.
