Jüdisches Leben in Nordkirchen Marga Spiegel, die „Retter in der Nacht“ und viele dunkle Stellen

Jüdisches Leben: Eine Spurensuche in Nordkirchen
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Der Strick hing immer im Fensterkreuz der kleinen Kammer auf den Bauernhof. Eine kleine, ziemlich vage Versicherung für Siegmund Spiegel, dass er - sollte er entdeckt werden - kurzerhand aus dem Fenster in den Heuboden klettern und fliehen konnte. Die Angst entdeckt zu werden, kannten der Pferdehändler aus Ahlen, seine Frau Marga und ihre fünfjährige Tochter Karin da schon seit mehreren Jahren: Verfolgung, Diskriminierung, Sorge um Hab, Gut, Leben - als Juden im Deutschland des Nationalsozialismus gehörte das für die junge Familie längst zum Alltag.

Zwei Jahre lang - von 1943 bis 1945 - versteckte sich die Familie auf mehreren Bauernhöfen in der Region: bei Aschoffs in Herbern, auf dem Hof Pentrup in Südkirchen, bei Sickmann in Werne, bei der Familie Silkenbömer in Nordkirchen und schließlich auf dem Hof der Familie Südfeld in Südkirchen. Und dank der Hilfe der pragmatisch mutigen Bauern aus dem Münsterland überlebten alle drei als eine der wenigen jüdischen Familien die Zeit des Dritten Reiches in Deutschland.

„Ein kleines Stückchen Heldentum“: So nennt Hubert Kersting vom Heimatverein Nordkirchen das, was die Familien auf den Bauernhöfen damals geleistet haben, um die Spiegels vor dem sicheren Tod im Konzentrationslager zu retten.

Keine Stolpersteine in Nordkirchen

Die Geschichte um die Rettung der jüdischen Familie in Nordkirchen ist eine prominente. Leider aber nicht unbedingt eine typische für die Zeit des Nationalsozialismus. Denn Siegmund, Marga und Karin Spiegel haben den Holocaust überlebt. Für sechs Millionen europäische Juden gilt das nicht. Sie hatten keine Retter - im Gegenteil. In den Konzentrationslagern waren es die Deutschen und ihre Helfer, die sie ermordeten. Allein in Auschwitz-Birkenau starben 1,1 Millionen Menschen, bevor das Lager am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde.

Nach Spuren jüdischen Lebens sucht man heute vergebens in der Gemeinde Nordkirchen. Stolpersteine - also kleine Messingtafeln im Asphalt, die an ehemaligen Wohnorten an die Geschichte jüdischer Mitbürger erinnern - gibt es in Nordkirchen beispielsweise nicht, wie Hubert Kersting vom Heimatverein bestätigt. Juden haben in der Gemeinde kaum Spuren hinterlassen - wahrscheinlich weniger, weil es sie nie gab. Und mehr, weil es, wie im Rest Deutschlands, der nationalsozialistischen Bewegung gelang, eigentlich alle Lebensbereiche der Menschen zu durchdringen.

Der Hof Aschoff in der Zeit, als Marga Spiegel mit ihrer Tochter dort lebte.
Der Hof Aschoff in der Zeit, als Marga Spiegel mit ihrer Tochter dort lebte. © Repro: Matthias Münch

Wobei: „Die Wahlergebnisse aus den Jahren 1930 und 1933 zeigen, dass die Basis für den Nationalsozialismus in Nordkirchen, Südkirchen und Capelle nicht allzu breit war. 1930 stimmten in Nordkirchen 46 Bürger für die NSDAP, 637 für das Zentrum (eine katholisch-konservative Partei). In Südkirchen votierten nur 12 Bürger für die NSDAP und 556 für das Zentrum. In Capelle gaben 17 Bürger ihre Stimme der NSDAP und 301 dem Zentrum. Auch 1933, als die Nationalsozialisten bereits die Macht an sich gerissen hatten, sah es in der Schlossgemeinde nicht viel anders aus. Die religiöse und vor allem katholische Bevölkerung Nordkirchens und des Münsterlandes unterstützte das Zentrum“, erklärt Hubert Kersting auf seiner Homepage zur Geschichte der Gemeinde.

Dass die Unterstützung für die nationalsozialistische Ideologie den Wahlergebnissen zufolge anfangs noch nicht so groß war in Nordkirchen, änderte sich mit der Machtergreifung. „Natürlich gab es auch in der Schlossgemeinde Begeisterung für die nationalsozialistische Bewegung, Beflaggung, Fackelzüge, Spitzelei und Denunziation“, so Kersting zum Alltag im Dritten Reich - eben auch in Nordkirchen.

Hinzu kam, dass das Schloss schon ab 1933 ein Ort war, an dem sich bis zum Ende des Krieges 1945 immer wieder bekannte Parteitreue versammelten. „Im Schloss Nordkirchen befand sich von 1933 bis 1945 eine Gauleiterschule. Hier wurden Lehrgänge für die potenziellen Nazi-Größen abgehalten“, erklärt Hubert Kersting.

Auch wenn es nicht die Art der Gauleiter war, sich „unter das Volk“ zu mischen, war das Klima in Nordkirchen in den Jahren des Dritten Reiches Juden gegenüber wahrscheinlich genauso feindselig wie im Rest des Landes.

Unter dem Titel „Unter Bauern“ wurde die Geschichte der Familie Spiegel verfilmt.
Unter dem Titel „Unter Bauern“ wurde die Geschichte der Familie Spiegel verfilmt. © Michael Boehme / Filmform / Pandora / ACAJOU / 2L

Marga Spiegel hat ihre Überlebensgeschichte, die ja unter anderem in Nordkirchen spielt, in den 1960er-Jahren aufgeschrieben und veröffentlicht: „Retter in der Nacht“, heißt das Buch, das 2009 auch unter dem Titel „Unter Bauern“ verfilmt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Familie Spiegel in ihren Heimatort Ahlen zurückgekehrt. „Gerade die Überzeugung, dass nicht alle Deutschen Mörder waren“ sei es gewesen, „die Kraft gab, nach all dem Unmenschlichen und Unfassbaren weiter hier – wo wir geboren sind - zu leben“, schrieb die Familie Spiegel im Jahr 1960 in einem Leserbrief an das Bistumsblatt Münster.

Marga Spiegel war mit ihrem Buch immer wieder in der Region zu Gast, um über die Zeit von Nationalsozialismus und Judenverfolgung zu sprechen - oft auch stand sie an Schulen jungen Menschen als Zeitzeugin Rede und Antwort. Sie starb im Jahr 2014 - im Alter von 101 Jahren.

Die Namen der Bauern aus Nordkirchen, Südkirchen, Werne und Ascheberg stehen mittlerweile in der „Allee der Gerechten unter den Völkern“ an der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. In dieser Allee erinnern Gedenktafeln an die etwa 27.000 nichtjüdischen Menschen und Organisationen, die versucht haben, Widerstand zu leisten und jüdische Menschen zu retten.

Mehrere Millionen Namen und Daten von Juden, die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes wurden, werden ebenfalls in der Gedenkstätte Yad Vashem gesammelt. Unter anderem auch die der 37 Verwandten von Marga Spiegel und ihrem Mann, die nicht das Glück hatten, in dieser dunklen Zeit Retter in der Nacht zu finden.

Hinweis der Redaktion: Dieser Text ist zum ersten Mal im Jahr 2019 erschienen. Wir haben ihn jetzt erneut veröffentlicht.