Vor dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam warten Menschen auf Einlass, um Annes Nachlass und ihr Tagebuch zu sehen. Böen zerbrechen ein Fenster, es blitzt, im Haus zerbirst die Vitrine, die das Tagebuch birgt. Aus dem Füller neben dem Buch läuft Tinte, die als Nebel aufsteigt und sich zur Gestalt eines rothaarigen Mädchens verdichtet.
Mit diesem Fantasy-Moment beginnt der Animationsfilm „Wo ist Anne Frank“, der an das Schicksal des jüdischen Mädchens und den Holocaust erinnert, dabei aber den Umweg über Annes fiktive Freundin Kitty geht. Gedreht hat ihn der Israeli Ari Folman, der 2008 mit dem Animationsstück „Waltz with Bashir“ Furore machte.
Zur Erinnerung an Anne
Die Rothaarige, die sich im Anne Frank-Haus manifestiert und im heutigen Amsterdam erwacht, heißt Kitty. Eine fiktive Freundin, die Anne damals in ihrem Versteck herbeifantasierte, um jemanden zu haben, mit dem sie ihre Gedanken teilen konnte.
Folmans Konzept: Mit einer Kitty, die er ins Jetzt katapultiert, kann er von außen auf den Mythos Anne Frank gucken und über Bilder vom modernen Amsterdam Kinder von heute für ein Thema sensibilisieren, das nur scheinbar der Vergangenheit angehört: Ausgrenzung und Diffamierung von Minderheiten, bis hin zu deren Vernichtung.

Eine Fahrt ohne Wiederkehr
Annes Familie muss auch in Folmans Film einen Zug besteigen, für alle (bis auf den Vater) eine Fahrt ohne Wiederkehr. Der Film (frei ab sechs Jahren) nutzt also eine Hilfskonstruktion, um einem jungen Publikum vom Holocaust zu erzählen.
Das erklärt, warum manches ein wenig didaktisch ausfällt, wie es in Lehrstücken halt ist. Als Kitty (in Basecap und Sneakers) das Anne-Frank-Theater besucht, schnellt sie aus dem Sitz und protestiert: Ihr sollt Anne nicht anbeten, setzt ihre Botschaft um! Helft allen in Not! Helft Flüchtlingen aus Afrika!
Rückblenden ins Damals
In der Gegenwart wird aus Kitty eine Aktivistin, die gegen Abschiebungen kämpft. Rückblenden zeigen Anne vor dem Krieg, später im Versteck mit Kitty. Die sucht Amsterdam nach ihrer Freundin ab, bis sie von deren Tod erfährt.
Mancher wird den Kniff mit der Moderne „rattenfängerisch“ finden. Man könnte auch diskutieren, ob es richtig ist, Nazis nicht als Menschen, sondern als maskierte Dämonen auftreten zu lassen. Und trotzdem ist Folman ein sehenswertes Filmmärchen voller Poesie und zauberhafter Bilder gelungen. Jedes Kind, das im Kino etwas über Menschlichkeit und Solidarität lernt, ist ein Gewinn.
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