Mehrere Mädchen zwischen 13 und 16 Jahren stehen Ende Februar um eine Jugendliche herum. Sie demütigen sie. Sie schlagen sie. Die Jugendliche in der Mitte weint. Die anderen Mädchen filmen die Tat – das Video kursiert inzwischen im Netz. In Freudenberg wird Mitte März eine Zwölfjährige mit mehreren Messerstichen tot aufgefunden. Die dringend Tatverdächtigen: zwei gleichaltrige Mädchen. Sie sollen sich gekannt haben.
Schlagzeilen über Taten Minderjähriger erhalten insbesondere in den letzten Wochen, aber auch immer wieder große Aufmerksamkeit. Doch sind minderjährige Mädchen in letzter Zeit wirklich häufiger gewalttätiger geworden?
Den Eindruck vermittelt erst einmal eine Mitteilung des Innenministeriums, ebenfalls aus dem März. Auf Anfrage der AfD hat es für das vergangene Jahr 7299 Taten durch 6810 weibliche Tatverdächtige unter 14 Jahren aufgelistet. 2021 seien es etwa 2000 verdächtige Mädchen weniger gewesen. Das Strafrecht verfolgt erst Kinder und Jugendliche ab 14 Jahren – Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren werden deshalb grundsätzlich nur als Tatverdächtige erfasst. Damit die Zahlen vergleichbar sind, hat die Polizei auch bei den 14- bis 18‑Jährigen die Zahl der Tatverdächtigen herangezogen.
Doch von welchen Straftaten sprechen wir hier?
Mädchen werden nicht unbedingt häufiger kriminell
Wer diese Frage beantworten will, muss sich in die endlosen Zahlenreihen des Bundeskriminalamtes (BKA) stürzen. Eine einfache Antwort gibt es aber nicht. Erster Grund: Das BKA erfasst sogenannte Tatverdächtigenbelastungszahlen, getrennt nach Alter und Geschlecht. Hinter diesem Wortkonstrukt befindet sich folgende Rechnung: die Zahl der Tatverdächtigen pro 100.000 Einwohner in der jeweiligen Altersklasse.
Ein Beispiel: Die Zahl der Fälle, in denen Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren gestohlen haben, wächst in einem bestimmten Zeitraum. Aber es leben in diesem Zeitraum proportional ebenso viel mehr Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren in Deutschland. Dann wird die umständlich benannte Tatverdächtigenbelastungszahl nicht steigen, auch wenn es faktisch mehr Fälle gibt.
Der zweite Grund: Eine Statistik erfasst nicht alles. So sind die Zahlen vor und nach 2009 nicht miteinander vergleichbar, da sich die Berechnung geändert hat. Außerdem landen naturgegeben nur die Fälle in der Polizeilichen Kriminalstatistik, die auch angezeigt wurden. Der Rest liegt im Dunkeln.
Im Verhältnis weniger Tatverdächtige bei Gewaltverbrechen
Also noch mal zurück: Was sagen uns die Zahlen? Gerechnet an der Verteilung der Altersgruppen in der Gesamtbevölkerung gab es bei Mädchen unter 14 Jahren und weiblichen Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren seit 2009 nicht bedeutend mehr Tatverdächtige - anders als es in der Mitteilung des Bundesinnenministeriums den Anschein hat. So gab es 2009 gerechnet auf 100.000 Einwohner etwa 1070 tatverdächtige Mädchen unter 14 Jahren – 2022 waren es nur noch 1018. Bei Mädchen zwischen 14 und 18 sind die Zahlen sogar gesunken: 2009 waren es etwa 4180, 2022 waren es 3178.
Schauen wir uns nun die einzelnen Straftaten an. Die Kriminalstatistik umfasst jegliche Untergruppe möglicher Delikte. Von Fahrraddiebstahl bis Zuhälterei, von Amtsbestechung bis Mord. Und eines zeigt sie ganz deutlich: Es gibt im Verhältnis zur Bevölkerung weniger tatverdächtige Mädchen bei Gewaltverbrechen. Unter Gewaltkriminalität fasst die Polizeiliche Kriminalstatistik unter anderem Mord, Totschlag, gefährliche und schwere Körperverletzung, Vergewaltigung und schwere sexuelle Nötigung sowie Raubdelikte zusammen. 2009 waren es 73 tatverdächtige Mädchen unter 14 Jahren auf 100.000 Einwohner, 2022 waren es 53.
393 Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren waren 2009 bei 100.000 Einwohnern wegen Gewaltverbrechen tatverdächtig. 2022 waren es 245. In diese Zahl würde auch die Tat von Freudenberg einfließen. In anderen Bereichen wie Diebstahl oder Betrug sanken die Zahlen seit 2009 deutlich.
Anstieg deutlich bei Sexualdelikten
Doch bei einem Punkt steigt die Kriminalität unter Mädchen und Frauen: bei Sexualdelikten. Diese werden in der Statistik als „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ aufgeführt, darunter fallen Vergewaltigung, sexuelle Belästigung, sexuelle Nötigung und die Herstellung oder Verbreitung von Pornografie. Während 2009 nur drei Mädchen unter 14 Jahren bei 100.000 Einwohnern eines Sexualdelikts verdächtigt wurden, waren es 2022 schon 88. Bei den jungen Frauen zwischen 14 und 18 Jahren stieg diese Zahl von zwölf auf 146.
Eines wird deutlich: 2009 spielten Mädchen und junge Frauen, die Pornografie erstellt und verbreitet hatten, keine besondere Rolle in der Kriminalstatistik. 2009 verdächtigte die Polizei bei 100.000 Einwohnern lediglich 1,1 Mädchen unter 14 Jahren und 6,7 Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren dieses Delikts. 2022 waren es bereits 81 Mädchen unter 14 und 134 Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren. Ebenso deutlich stiegen die Zahlen bei dem Besitz oder der Verschaffung von kinderpornografischem Material. 2009 sind keinerlei Mädchen in dieser Hinsicht straffällig geworden, 2022 waren es 72 unter 14 Jahren und 91 weibliche Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, jeweils gerechnet auf 100.000 Einwohner.
Aber es wurden auch mehr Mädchen wegen sexuellen Missbrauchs verdächtigt. 2009 waren es 2 Mädchen unter 14 Jahren bei 100.000 Einwohnern, 2022 waren es 6. Bei weiblichen Teenagern zwischen 14 und 18 Jahren stieg die Zahl im selben Zeitraum von 4 auf 8.
Rauschgiftkriminalität steigt ebenfalls
Auch in einem anderen Bereich steigt die Kriminalität: bei den Rauschgiften: von 6 auf 22 bei den Mädchen unter 14 Jahren und von 146 auf 351 bei den weiblichen Teenagern zwischen 14 und 18 Jahren. Bei Drogen wie Kokain, Heroin oder LSD sanken die Zahlen kontinuierlich – anders als bei Cannabis. Hier stiegen die Zahlen deutlich – vor allem bei den weiblichen Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren. 2009 gab es in der Kategorie 100 Verdächtige auf 100.000 Einwohner, 2022 waren es bereits 252, auch sind die Zahlen beim Handel mit Cannabis gestiegen.
So sind Mädchen, gemessen an der Größe ihrer Bevölkerungsgruppe, nicht unbedingt häufiger als früher straffällig geworden. Doch bei Sexual- und Drogendelikten sind sie häufiger in Konflikt mit dem Gesetz geraten. Allerdings werden noch immer Jungen häufiger tatverdächtig. 2009 stehen bei allen Straftaten 2570 weibliche Tatverdächtige zwischen acht und 21 Jahren 6767 männlichen im selben Alter gegenüber. 2022 waren es 2031 weibliche Tatverdächtige bei allen Straftaten und 4889 männliche.
RND
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