Wer sind die „Spaziergänger“ und Demonstranten in Recklinghausen?

© Jörg Gutzeit

Wer sind die „Spaziergänger“ und Demonstranten in Recklinghausen?

rnAnalyse der Corona-Proteste

Am Freitag (7.1.) waren mehrere hundert Menschen gegen die Corona-Maßnahmen in Recklinghausen auf der Straße, montags finden seit Wochen „Spaziergänge“ statt. Doch wer sind die Demonstranten?

Recklinghausen

, 11.01.2022, 19:30 Uhr / Lesedauer: 4 min

Klar ist: Die Menschen, die seit Wochen gegen die Corona-Maßnahmen protestieren, sind keine homogene Gruppe. Sie sind nicht vergleichbar mit streikenden Gewerkschaftsangehörigen, die der Wunsch nach besserer Bezahlung oder einer 38,5-Stunden-Woche eint.

Die Demonstranten propagieren den Freiheitsbegriff, sie fordern Frieden, Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung und Toleranz ein, wollen ein „Ende der Diktatur“. Ihre Aufzüge muten wie Straßenpartys mit Trommeln, Trillerpfeifen und Deutschland-Fahnen an. Es herrscht Volksfeststimmung, es erinnert an Rosenmontag. Nur dass aus den Musikboxen nicht rheinische Karnevalshits, sondern „Freiheit“ von Westernhagen, „We are the world“ oder George Michaels „Freedom“ tönen. Auch Passagen von Helene Fischer – „Wann wachen wir auf? Wann steh’n wir auf? Lass uns wieder mit unsren Herzen schau’n“ – scheinen den Protestlern aus der Seele zu sprechen. Dazwischen erklingt eine heitere Melodie mit bösem Text: „Der Lauterbach hat Stuss studiert und in Blödsinn promoviert.“ Die Pandemie, so heißt es in dem Song über den SPD-Bundesgesundheitsminister, existiere nur in der Fantasie des „King of Covid“, der durch das „Zwangs-TV“ tingele.

Jetzt lesen

Die Demos sind ein Sammelbecken: Auf der Facebook-Seite dieser Zeitung melden sich jene, die betonen, geimpft zu sein und dennoch an den Aufzügen teilnehmen, weil sie gegen eine Impfpflicht seien. Etliche werfen dieser Zeitung tendenziöse Berichterstattung vor. Es gibt auch Bürger, die sich durch die Corona-Maßnahmen des Staates in ihren persönlichen Freiheiten beschnitten sehen. Die Recklinghäuserin Miriam Weichler etwa, die mehrere Demonstrationen bei der Polizei angemeldet hat, erklärt in einem TV-Interview: „Eine Impfung schützt ausschließlich mich selber und nicht andere.“ Deswegen bringe „das alles“ nichts. „Ich persönlich behaupte, dass Corona eine Mutation einer anderen Grippe-Art ist und natürlich viele Leute daran sterben, klar. Aber das tun sie bei Grippe auch.“

Messenger-Dienst Telegram wird von Rechtsextremen gern genutzt

Wie finden diese Menschen mit so verschiedenen Denkweisen zueinander? Zentrales Kommunikationsmedium der Corona-Leugner, -Skeptiker, Impf(pflicht)gegner und „Querdenker“ ist der Messenger-Dienst Telegram, der von Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen gern genutzt wird. In öffentlich einsehbaren Gruppen verabreden sich die Mitglieder zu Demos und „Spaziergängen“. Und sie feiern sich, wenn sie die selbst gedrehten Clips von ihren Aufzügen im Gruppen-Chat und bei YouTube anschauen. Von „Gänsehaut“ und „Tränen in den Augen“ ist die Rede. Eine Userin schreibt: „Da hat sich die Stunde Fahrt auf jeden Fall gelohnt.“ Dass bei Weitem nicht nur Recklinghäuser um den Wall marschieren, wird schnell klar: Unverhohlen werden Fahrgemeinschaften arrangiert – aus Oer-Erkenschwick, weil die Anreise mit dem ÖPNV wegen der 3G-Regeln für Ungeimpfte unmöglich ist, aus Herne, Borken, Dülmen...

„Spaziergänger“ wollen sich „den Weihnachtsspeck abtrainieren“

Telegram ist Tummelplatz für Menschen mit fragwürdigen bis kruden Ansichten, die aus unseriösen Quellen zitieren, unbewiesene Behauptungen aufstellen und verbreiten. Sie verabreden, was sie gegenüber der Polizei sagen dürfen, ohne belangt werden zu können. Mal erdenken sie sich, mit ihren Märschen „den Weihnachtsspeck abtrainieren“ zu wollen, ein anderes Mal sollen vorgeblich verlorene Schlüssel gesucht werden.

"Ich bin nicht rechts", werden einige Demo-Teilnehmer nicht müde zu betonen. Tatsache aber ist, dass sie gemeinsam mit Rechten und Rechtsextremen über die Straßen ziehen.

"Ich bin nicht rechts", werden einige Demo-Teilnehmer nicht müde zu betonen. Tatsache aber ist, dass sie gemeinsam mit Rechten und Rechtsextremen über die Straßen ziehen. © Jörg Gutzeit

Eine „Spaziergängerin“ meldet sich nach einer der ersten Veranstaltungen in der Redaktion. Sie stellt sich als Sandra vor. Die Zeitung, sagt sie, möge darauf hinweisen, dass die Teilnehmer der „Spaziergänge“ keine Plakate mitbringen sollen. Die Polizei habe ihr ein Schild mit der Aufschrift „Nein zur Zwangs-Genspritze“ abgenommen.

Aber was will Sandra mit ihren Anrufen bezwecken? Ist es der Versuch, diese Zeitung zu instrumentalisieren? Oder glaubt sie, dass es Aufgabe von Journalisten sei, Teilnehmern nicht angezeigter Versammlungen Tipps zu geben?

„Es geht um die Entmenschlichung der Menschheit“

Wie Sandra tickt, offenbart sich im Lauf der Gespräche: Sie verweist auf Texte auf irgendwelchen Internet-Adressen, auf denen „ganz unten auf Seite 15“ stehe, dass die Impfstoffe von Biontech und Moderna „nur für Laborzwecke“ geeignet seien. Und überhaupt: Bei der Corona-Politik gehe es ausschließlich „um die Entmenschlichung der Menschheit“. Das klingt verschwurbelt, nach „Querdenker“-Sprech, wie man es aus einschlägigen Foren kennt. „Uns soll das chinesische System aufgezwungen werden“, behauptet Sandra – ohne dies näher zu erläutern. Die Menschen müssten „endlich aufwachen“, schließlich – und jetzt wird es esoterisch – „bietet uns die Natur alles, was wir brauchen“.

Sind das die Reptiloiden, die die Menschheit versklaven wollen? Zwei Teilnehmer der Mahnwache am 7. Januar kamen in Echsenmenschen-Verkleidung – ihre Antwort auf die Verschwörungstheorien, denen manch ein Demonstrant offenkundig Glauben schenkt.

Sind das die Reptiloiden, die die Menschheit versklaven wollen? Zwei Teilnehmer der Mahnwache am 7. Januar kamen in Echsenmenschen-Verkleidung – ihre Antwort auf die Verschwörungstheorien, denen manch ein Demonstrant offenkundig Glauben schenkt. © Jörg Gutzeit

Auch wenn in den Aufrufen zur Demo stets betont wird, dass man „überparteilich“ sei, sind es vor allem Vertreter aus dem rechten und rechtspopulistischen Parteienspektrum, die mit durch Recklinghausen ziehen. Miriam Weichler, die selbst der AfD nahe steht, hat offen zugegeben, dass zuletzt neben AfD-Vertretern auch Mitglieder anderer Parteien anwesend waren, etwa von „die Basis“, dem parteipolitischen Arm der „Querdenker“-Bewegung.

Mitglieder von NPD und „Junge Nationale“ marschieren mit

Im Internet, bei Facebook und Telegram kursieren Bilder, die – so die Aufnahmen denn echt sind – nicht nur lokale Prominenz wie die UBP-Ratsfrau Claudia Ludwig oder ihren Marler Parteikollegen Borsu Alinaghi zeigen. Auch eine Frau mit buntem Tuch auf dem Kopf ist zu erkennen: Es soll sich um Iris Swoboda aus Bottrop handeln. Sie ist bekannt als Gründerin der Initiative „Mütter gegen Gewalt“, zu deren Demos auch szenebekannte und vorbestrafte Neonazis kommen. Bei dem Aufzug am 7. Januar auf dem Wallring wurden Mitglieder der rechtsextremen NPD und deren Jugendorganisation „Junge Nationale“ gesichtet: Ein Bild zeigt einen jungen Mann mit Tarnfleck-Jacke und schweren Lederhandschuhen, der auf der Rathaustreppe eine schwarz-rot-goldene Flagge schwenkt.

Jetzt lesen

Ein Teil dieser Informationen – auch das gehört zur ganzen Geschichte – wird von linkspolitischen bzw. linksextremen Aktivisten verbreitet. Sie unterhalten eigene Foren im Internet, senden „Beobachter“ zu den Demos, filmen die Aufzüge. Bei der ersten Mahnwache im Dr.-Helene-Kuhlmann-Park als Gegenveranstaltung war ein Banner von „Antifa for Future“ gespannt.

Jetzt lesen

Über die Internet-Seite „de.indymedia.org“ wurde kürzlich ein offenes, gleichwohl anonymes Schreiben veröffentlicht. Darin heißt es wörtlich: „Aktivisten beobachten seit 5 Wochen die stetig wachsenden Versammlungen der Impfgegner und konnten (...) wiederholt eine große Anzahl bekannter Neonazis aus dem Umfeld rechtsextremistischer Strukturen und Parteien identifizieren. Dies deckt sich auch mit Inhalten der Telegram Gruppen, in welchen Teilnehmer Reichskriegsflaggen zur Schau stellen und antisemitische Verschwörungstheorien verbreiten.“ Die Bewegung der Corona-Skeptiker und Impfgegner gebe sich zwar nach außen friedlich, aber „schafft einen Nährboden für (antisemitische) Verschwörungstheorien, rechte Radikalisierungsprozesse und schlichtweg faschistoide Menschen und Gedankengut.“

Auf der Seite gibt es, wie auch aus den Reihen der „Spaziergänger“, Kritik an der Berichterstattung dieser Zeitung. Sie sei „undifferenziert“. Zudem werden der Redaktion „familiäre Verbindungen“ zu Miriam Weichler unterstellt.

Unterm Strich bleibt der Eindruck: Beteiligte aus allen Lagern sehen vor allem ihre eigene Wahrheit und versuchen, auch den Medien jede Glaubwürdigkeit abzusprechen. Unsere Aufgabe ist und bleibt es, zu berichten und einzuordnen.