Alles sagen! – Wirklich alles? Unsere Serie zum Streit um die freie Meinung begleiten viele unserer Leserinnen und Leser mit sehr offenen, streitbaren Worten. Das gehört zum Fundament einer Demokratie. Aber wir erhalten auch eine ganze Reihe Reaktionen, die diesen Boden verlassen haben, die sorgfältig recherchierte Fakten ignorieren oder ohne tatsächliche Argumente bestreiten und durch Meinung ersetzen, Sachlichkeit durch Wut:
Hier nur einige wenige Beispiele (Schreibweisen übernommen): „Brauche keine Statistik zu lesen, … Jeder weiß doch das fast alle Gewaltdelikte von Ausländern begangen werden.“ „Ich dachte, hier ist deutschland und nicht Afrika.“, „Hallo Redaktion die Verarsche geht weiter.“ „Sie schmieren nur Papiervpoll.“ „Halt die Fresse und verzieh dich aus dem Medium Internet.“ Warum schreiben Menschen so, was geht in ihren Köpfen vor, warum wischen sie Daten und Fakten einfach beiseite, ohne sich damit auseinanderzusetzen, warum machen sie sich aber gleichzeitig die Mühe, seitenlange Briefe voller Hass und Fremdenfeindlichkeit zu verfassen?
Das geschlossene Weltbild
Für die Psychologin Pia Lamberty ist das nicht verwunderlich. „Wenn jemand ein geschlossenes Weltbild zu einem Thema hat und diese Weltsicht handlungsleitend wird, dann sind Fakten nicht mehr relevant. Dann geht es darum, dieses Weltbild immer weiter aufrecht zu erhalten“, sagt sie. „Wenn ich sehr davon überzeugt bin, dass es Einhörner gibt, dann können Sie mir mit noch so vielen Studien kommen. Ich werde meinen Glauben nicht aufgeben.“
Pia Lamberty ist Co-Geschäftsführerin von CeMAS – Center für Monitoring, Analyse und Strategie gGmbH. Die gemeinnützige Organisation bündelt interdisziplinäre Forschungen und Erkenntnisse zu Themen wie Verschwörungsideologien, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Die Psychologin forscht seit Jahren dazu, warum Menschen an Verschwörungserzählungen glauben und welche Folgen das hat. Mit Katharina Nocun veröffentlichte sie das Sachbuch „Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“.
Verteidigung und Angriff
Vom geschlossenen Weltbild zu Äußerungen wie den oben zitierten ist es laut Lamberty nur ein kleiner Schritt: „Wenn Sie glauben, alle Ausländer seien kriminell, und lesen dann einen Artikel, der das infrage stellt, dann entsteht ein Spannungsgefühl in Ihnen, psychologisch gesprochen eine kognitive Dissonanz. Dann können Sie Ihr Weltbild aufgeben, was aber umso unwahrscheinlicher ist, je ideologisch gefestigter es ist, oder Sie attackieren das Medium, in dem Sie den Artikel gelesen haben, um Ihren Glauben aufrechterhalten zu können.“ Hier sieht die Psychologin auch eine Ursache für Wut und Hass, die aus manchen Leserreaktionen sprechen.

Die Krisen des Alltags
Eine der Ursachen für das gehäufte Auftreten geschlossener Weltbilder mit Verschwörungscharakter und das Festhalten an ihnen sehen Forschende in der raschen Abfolge gesellschaftlicher Krisensituationen. Da hätten diese Weltbilder für ihre Anhänger wichtige Funktionen, sagt Pia Lamberty: „Wenn jemand zum Beispiel einen Kontrollverlust erlebt, vielleicht, weil er sich von gesellschaftlichen Krisen überfordert fühlt, dann sucht er nach Stärke. Dann kann er sich überlegen fühlen gegenüber der ,dummen Lügenpresse‘, den ,Systemmedien‘. Er glaubt dann, zu wissen, was wirklich passiert. Das sind Faktoren, die auch Aggression hervorrufen“. So werden aus Fakten „Lügen“ und aus dem eigenen Weltbild neue „Fakten“.
Ähnlich sieht das Prof. Dr. Bernd Sommer, Soziologe an der TU Dortmund, mit dem wir ebenfalls über Leserreaktionen an unsere Redaktion sprachen. „In den vergangenen Jahren ist gesellschaftlich und kulturell viel in Bewegung geraten. Was gestern als selbstverständlich galt, wird heute von Teilen der Bevölkerung als diskriminierend empfunden“, sagt Sommer und verweist auf das heftig umstrittene Thema „Klima“. „Das Eigenheim, das Auto, die Flugreise, Grillabende, Sonntagsbraten – bis vor kurzem alles traditionelle Inbegriffe des guten Lebens. Diese Dinge werden plötzlich problematisiert. Da fühlen sich Menschen in ihrer Identität tief betroffen, das trägt zu heftigen Reaktionen bei.“
Persönlicher Nutzen gegen Fakten
Doch warum verlassen manche emotionsgeladen den Boden der Sachlichkeit, andere nicht? Viele dieser Faktenskeptiker seien keine „abgedrehten Aluhutträger“, sagt Pia Lamberty. Bei „Verschwörungsgedanken“ dürfe man nicht nur in Extremen denken, sondern müsse schon viele Stufen darunter ansetzen. Das betreffe auch Menschen aus der gesellschaftlichen Mitte. Einstellungsstudien hätten allerdings gezeigt, dass dies nichts mit der Intelligenz der Betroffenen zu tun habe, eher mit einem Bildungseffekt in der Form, „dass Menschen mit einer niedrigeren formalen Bildung sich oft nicht so gehört fühlen in der Gesellschaft.“
Eine Studie von Corey Cusimano und Tania Lombrozo von der Princeton University konnte zeigen, dass Menschen insbesondere dann Ansichten vertreten, die mit Fakten unvereinbar sind, wenn sie starke persönliche Gründe haben. Dazu zählen persönliche moralische Vorstellungen, Ängste oder enge Bezugspersonen, denen man eher glaubt und sich verpflichtet fühlt als fremden Forschern. Der Neurowissenschaftler Henning Beck bringt das in dem Satz auf den Punkt: „Menschen von Fakten zu überzeugen, funktioniert oft gar nicht, weil sie sich gar nicht an Fakten orientieren, sondern an dem, was für sie nützlich ist.“
Der Psychologe Matthew Hornsey von der University of Queensland nennt auf Grundlage seiner Forschungen als zentrale Motive von Wissenschaftsskepsis und dem Leugnen wissenschaftlicher Befunde: politische Ideologie, starke Eigeninteressen, Verschwörungsglaube und persönliche Ängste (so zeigte eine Befragung, dass Impfskepsis umso größer war, je mehr sich die Befragten vor Spritzen ekelten).
Weitere Motive sind nach Hornsey persönliche und soziale Identitäten: Herrscht in einer Gruppe eine bestimmte Meinung vor, so vertritt der Einzelne umso eher diese Meinung und ignoriert oder leugnet gegenteilige Fakten, je mehr Angst er hat, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden. Anders herum können enttäuschte Individuen durch die selbst gewählte Zugehörigkeit zu einer Skeptikergruppe wie Querdenkern das eigene, möglicherweise beschädigte Selbstwertgefühl steigern.
Emotion in Sozialen Medien
Hat mit dieser Verschiebung von Fakten zu Emotionen die Aggression zugenommen? Der Blick auf Leserreaktionen der letzten Jahre in unserer Redaktion, sei es zu Corona, Ausländerkriminalität oder Klimakrise, geht eindeutig in diese Richtung. Pia Lamberty glaubt, die Häufung von Krisenmomenten in der Gesellschaft habe eine bürgerliche Radikalisierung vorangetrieben vor allem auch in der digitalen Welt, in sozialen Medien. Dort werde „der Meinungskorridor enger in radikalisierten Gruppen. Für die gibt es nur noch eine Wahrheit und jeder, der etwas anderes sagt, ist ein ,Schlafschaf‘ oder Teil der Verschwörung.“ Hinzu käme, das Überemotionalisierung in digitalen Medien strukturell angelegt sei, weil Fakten weniger Reichweite erzielten als Emotionen.

Auch der Soziologe Prof. Sommer sieht die Polarisierung von Meinungen, wie sie in unseren Leserreaktionen sichtbar werde, vor allem im Zusammenhang mit den sozialen Medien: „Es hat in den vergangenen Jahren so etwas gegeben wie einen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Die Leitmedien verlieren an Stärke. Mit Social Media sind Entwicklungen entstanden, die öffentliche Meinungen polarisieren, also ausdifferenzieren.“ Nutzern werden über Algorithmen häufiger ähnliche Inhalte präsentiert wie die von ihnen bevorzugten, und in solchen „Filterblasen“ verstärken sich dann gegenseitig gleichlautende Meinungen wie in einer „Echokammer“. Verschiedene Studien zeigen, dass diese Effekte es ebenfalls erleichtern, Fakten umzudeuten oder zu ignorieren, die dem eigenen Weltbild widersprechen.
Ins Gespräch kommen
Und wie geht man mit Menschen um, die ihr gefestigtes ideologisches Weltbild nicht hinterfragen wollen, wie diskutiert man in emotionsgeladener Situation, auch im privaten Umfeld, im Familien- oder Freundeskreis? Der Soziologe Bernd Sommer ist eher skeptisch, in einem solchen Kontext zu versuchen, durch die besseren Argumente oder Quellen politische oder ideologische Überzeugung zu ändern: „Auch wenn es ernüchternd klingt: Wenn es wirklich darum geht, einen schönen Abend zu haben, sollte man manche Trigger-Themen vielleicht mal ausblenden.“
Der Psychologe Matthew Hornsey rät, die von ihm identifizierten wahren Motive, die Menschen Fakten ignorieren lässt, zu berücksichtigen und sich dieser Motive zu bedienen, also etwa dahinter liegende Ängste aufzulösen. Auch der Neurowissenschaftler Hennig Beck schlägt vor, diese Motive in den Vordergrund zu stellen.
Die Psychologin Pia Lamberty glaubt, im privaten Umfeld habe man noch„die beste Chance von allen“, mit Faktenskeptikern ins Gespräch zu kommen. Allerdings müsse man sehr viel Geduld haben und sich zuvor einige Fragen beantworten: Wie ideologisiert ist mein Gegenüber? Was will ich erreichen? Dann sei es wichtig, sich nur kleine Ziele vorzunehmen. Hilfreich seien auch „Verbündete“ in der Diskussion oder der Schwenk vom Politischen zum Persönlichen („Du machst Dich über Corona lustig, das verletzt mich“). Bei menschenverachtenden Äußerungen solle man aber in jedem Fall eine klare Grenze ziehen und deutlich machen: Bis hierhin und nicht weiter.
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