Warum Russland gezielt Sanitäter und Helfer tötet Putin setzt mörderische Methode ein

Warum Russland gezielt Sanitäter und Helfer tötet: Putin setzt mörderische Methode ein
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Der erste große Knall erschütterte die Kleinstadt Pokrowsk am Montag um 19.15 Uhr. Einmal mehr hatte Wladimir Putins Luftwaffe eine Rakete auf ein belebtes Wohn- und Geschäftsviertel in der Ukraine abgefeuert.

Das Hotel Druschba, eine Apotheke und zwei Cafés versanken in Schutt und Asche. Einem fünfstöckigen Apartmenthaus wurde das Dach weggerissen. Vom Restaurant Corleone blieb nur noch Geröll.

Der Luftschlag ähnelte insoweit dem bizarren russischen Raketenangriff auf Ria Pizza in Kramatorsk. Dort tötete die russische Luftwaffe am 27. Juni 13 Gäste und Bedienstete einer Pizzeria, darunter viele Teenager und die ukrainische Dichterin Victoria Amelina (37).

Einmal mehr wollte Russland in Pokrowsk offenbar Einrichtungen treffen, die auch von Medienvertreterinnen und -vertretern aus dem Westen genutzt wurden. Im Hotel Druschba hatte zum Beispiel ARD-Korrespondent Vassili Golod nach eigenen Angaben schon oft Fernsehteams übernachten lassen. Das Corleone war unter Journalistinnen und Journalisten sowie bei Hilfsorganisationen bekannt dafür, dass es nicht nur die übliche Pizza am Abend bot, sondern auch Pfannkuchen am Vormittag und Apfelstrudel am Nachmittag.

Ein Zeichen der besonderen Art

Schon in Kramatorsk beendete Russland ein vergleichbares fröhliches Treiben in Frontnähe durch Raketenbeschuss. In Pokrowsk aber setzte Russland diesmal ein Zeichen besonderer Art: Putins Luftwaffe leistete sich nach dem ersten Luftangriff eine weitere Raketenattacke, auf genau denselben Punkt.

Der zweite große Knall kam um 19.52 Uhr. Und er erschütterte die Stadt noch mehr als der erste. Der Effekt lag weniger im Physischen. Eine zweite Rakete aufs gleiche Ziel lässt naturgemäß nur noch Trümmer tanzen.

Die emotionale Wirkung aber ist enorm. Denn jetzt bohrten sich die Splitter auch in die Körper der Helferinnen und Helfer, die nun blutend zu Boden gingen. Im Laufe der zurückliegenden 37 Minuten waren sie herbeigeeilt: Sanitäterinnen und Sanitäter, Feuerwehrleute, Ärztinnen und Ärzte, Polizistinnen und Polizisten, freiwillige Unterstützerinnen und Unterstützer örtlicher Rettungsmannschaften. Sie alle hatten gerade versucht, die Opfer der ersten Attacke zu bergen und zu versorgen, als die zweite russische Rakete sich näherte.

„Menschliches Fleisch lag in den Trümmern“

Das Ergebnis war ein Massaker von monströsem Format. „Die Blutlachen in den Trümmern waren am Dienstag noch feucht“, notierte die „New York Times“, gestützt auf Schilderungen der französischen Fotojournalistin Gaëlle Girbes. „Menschliches Fleisch lag in den Trümmern.“

Neun Menschen starben sofort. Ein zehntes Todesopfer wurde am Sonntag, 13. August 2023, gemeldet: Feuerwehrmann Vitaly Kinc, Chef eines Lösch- und Rettungstrupps aus Pokrowsk.

Mehr als 80 Verletzte, teils mit entsetzlichen Wunden, mussten nach der zweiten russischen Attacke versorgt werden. Die örtliche Klinik war schon nach dem ersten Raketenangriff überlastet. Nach dem zweiten kollabierte das regionale System komplett: Wer soll Blutungen stoppen und Verbände anlegen, wenn es die Sanitäterinnen und Sanitäter selbst getroffen hat? 38 Verletzte gehörten ihrerseits zu den Rettungskräften.

Die Maximierung menschlichen Leids

Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj erspürte sofort das Teuflische dieser Attacke und meldete sich noch am selben Abend wütend zu Wort. Die russischen „Terroristen“, schimpfte Selenskyj in einem Videoauftritt, hätten sich „bewusst dafür entschieden, der Ukraine so viel Schmerz wie möglich zuzufügen“.

Tatsächlich will Putin, so pervers es klingt, die Maximierung menschlichen Leids. Dahinter steckt Kalkül. Grausamkeit hilft beim Machterhalt: An dieser Stelle weisen aus Sicht des Kremlherrn historische Eindrücke und eigene Erfahrungen in die gleiche Richtung.

Schon immer beeindruckte den russischen Staatschef die Geschichte Iwans des Schrecklichen (1530–1584). Der erste Zar saß bemerkenswert fest im Sattel. Mit frömmelnder Geste gab er so stolze und bis heute prägende Bauwerke wie die bunte Basilius-Kathedrale am Moskauer Roten Platz in Auftrag – während er seine Feinde bei lebendigem Leib zerstückeln ließ.

Putin bombt seine Gegner in die Hoffnungslosigkeit

Putin hat aus seinen eigenen Kriegen die Lektion mitgenommen, dass es machtpolitisch nützlich sein kann, die Bevölkerung eines anderen Landes gnadenlos in den Zustand völliger Hoffnungslosigkeit hineinzubomben. In Grosny (Tschetschenien) hat er es so gemacht, in Aleppo (Syrien) ebenfalls. Putin kennt den demoralisierenden Effekt solcher Attacken. Bei den Betroffenen sinkt nach und nach der Mut. Am Ende geben sie auf – und fliehen. Dann hat Russland gewonnen.

Völkerrechtsverstöße? Der höhnische Umgang mit dem Kriegsvölkerrecht ist unter Putin traurige Routine geworden. Immer wieder ordnete er in seinen mittlerweile 24 Jahren an den Schalthebeln der Macht Verbotenes an: Attacken auf die Lebensmittelversorgung anderer Völker, Folter und Verschwindenlassen Missliebiger, Bombardierung von Krankenhäusern und, wie diese Woche in Pokrowsk, „Double Tap“-Angriffe aus der Luft mit dem Ziel, durch zwei Attacken in Folge zusätzlich noch möglichst viele Angehörige von Rettungsmannschaften zu töten oder zu verstümmeln.

Die russische Regierung hat „Double Tap“-Attacken in ihren offiziellen Stellungnahmen stets geleugnet, schon im Syrien-Krieg. Menschenrechtsgruppen haben jedoch Moskaus mörderische Methoden mittlerweile eindrucksvoll dokumentiert. So wurden in Syrien 58 „Double Tap“-Attacken registriert. Unter dem Titel „When the planes return“ veröffentlichte das „Syria Justice and Accountability Centre“ im Jahr 2022 dazu eine detaillierte Übersicht.

Für die Ukraine gibt es noch keine verlässlichen Zahlen, die Untersuchungen laufen. Einige Vorfälle sind aber längst bekannt, mitunter wurden sie sogar von internationalen Medien bei laufender Kamera festgehalten, Mitte April zum Beispiel von einem australischen Fernsehteam in Charkiw. Im Sommer folgten russische „Double Tap“-Attacken auch in Odessa und Cherson.

Den jüngsten Doppelangriff filmten Zivilisten erst vor wenigen Tagen in Saporischschja. Getroffen wurde hier ein Hotel, das häufig von Mitarbeitern der Vereinten Nationen und von humanitären Hilfsorganisationen benutzt wurde. Scharfe Kritik an Russland übte deswegen nicht nur die ukrainische Regierung, sondern, in einer ungewohnt emotionalen offiziellen Stellungnahme der UN, auch die Beauftragte der Vereinten Nationen für die Ukraine, die Kanadierin Denise Brown.

Fünf beklemmende Tipps aus Syrien

Kriegsgestählte Rettungskräfte aus Syrien geben den ukrainischen Kolleginnen und Kollegen seit Beginn der Angriffe immer wieder praktische Tipps zum Umgang mit der russischen Luftwaffe. Ihr Hinweis Nummer eins lautete: Man möge bitte die unfassbare Unmenschlichkeit Moskaus nicht unterschätzen.

„Die Ukrainer begegnen jetzt der grausamsten, unethischsten und kriminellsten Tötungsmaschinerie, die es heute auf der Welt gibt“, warnte Raed al-Saleh, Chef der syrischen Hilfsorganisation Weißhelme, in der „Washington Post“ schon im vorigen Jahr. „Putins Ziel ist es, den Willen der Zivilbevölkerung zu brechen. Der Grausamkeit seiner Truppen sind keine Grenzen gesetzt.“

Im Einzelnen empfehlen syrische Überlebende den Ukrainern folgendes Vorgehen:

  • Kleine Hilfsteams gründen, geografisch gut verteilt, mit jeweils nur vier oder fünf Personen, die schnell zum Ort eines Luftangriffs fahren können. „Errichtet keine großen Hauptquartiere für Rettungskräfte“, warnt Weißhelm-Chef Saleh. „Sie würden zum Ziel russischer Bomben.“
  • Helfer sollen Walkie-Talkies mit kurzer Reichweite benutzen, keine Internetkommunikation, die von den Russen verfolgt werden kann.
  • Stets sollen einige Teammitglieder selbst den Himmel im Nahbereich beobachten, statt sich allein auf ferne Radarsysteme zu verlassen.
  • Die Hilfe nach einem ersten Angriff müsse so schnell wie möglich ablaufen. „Die ersten sieben bis neun Minuten sind wichtig.“
  • Die Ukrainerinnen und Ukrainer sollen rund um ihre Städte „kleine medizinische Außenposten“ errichten, die größere Krankenhäuser entlasten können. „Aber halten Sie diese Orte geheim“, mahnt Weißhelm-Chef Saleh. „Geben Sie die GPS-Standorte medizinischer Einrichtungen auch nicht an die Vereinten Nationen weiter.“ Russland werde sich die Daten verschaffen und die medizinischen Stützpunkte angreifen.

Die Syrerinnen und Syrer wissen, worüber sie reden. Die russische Luftwaffe und die von ihr unterstützte syrische Luftwaffe machten Schulen, Kliniken, Supermärkte und Bäckereien dem Erdboden gleich. Mehr als sechs Millionen Syrerinnen und Syrer wurden auf diese Weise obdachlos. Eine Million flohen in Richtung EU.

Als gehe es um Ungezieferbekämpfung

Auf Wohnviertel in Syrien wurden, als gehe es um Ungezieferbekämpfung, Brandbomben, Streubomben und zeitweise auch Giftgas abgeworfen. Zum Einsatz kamen auch billige Fassbomben, mit Sprengstoff und kleinen Metallteilen gefüllte Ölfässer, die alles andere als zielgenau sind, aber in großem Umkreis Menschen töten oder zum Pflegefall machen können.

Die dahinter stehende Menschenverachtung ist keine persönliche Spezialität Putins, sondern wird auch in Russlands Truppe geteilt. Er werde jetzt „die Bonbons liefern“, höhnte zum Beispiel ein russischer Bomberpilot, dessen Funksprüche abgehört wurden, bevor er im Jahr 2020 zum zweiten Mal in einer Geschäftsstraße im syrischen Maarat al-Numan ein Blutbad anrichtete. Die „New York Times“ hält zu diesem Fall eine grausige Videodokumentation auf Youtube bereit.

Insgesamt wurden in den vergangenen zehn Jahren in Syrien nach Angaben der Weißhelme 252 freiwillige Ersthelferinnen und Ersthelfer im Einsatz getötet. Mehr als die Hälfte von ihnen starb durch russische oder syrische Bomber, die nach einem Luftangriff mit dem barbarischen Befehl zurückkehrten, nun auch die Rettungsteams in den Trümmerlandschaften zu töten.

Die damit in Gang gesetzte Flüchtlingsbewegung sollte nach den Plänen Putins in den EU-Staaten eine politisch zersetzende Wirkung auslösen und nationalistische Strömungen stärken. Genau dies ist Putin auch gelungen.

Heute spricht deshalb aus seiner Sicht nichts für irgendeine Zurückhaltung in der Ukraine, im Gegenteil. Erneut sieht der russische Kriegsherr in der Anwendung größtmöglicher Grausamkeit das Gebot der Stunde.

RND