Gudrun Güth wurde als Kind verschickt. In den 50er-Jahren. Nach Bad Sooden-Allendorf. Zweimal nach Cuxhaven-Duhnen. Und ins Seehospiz Norderney. Ihre Erlebnisse dort hat die Waltroperin jahrzehntelang mit sich herumgetragen, gleichzeitig auch verdrängt - jedenfalls nicht darüber gesprochen. „Irgendwann im Alter habe ich dann gedacht, dass ich das Thema doch noch mal aufgreifen müsste“, erzählt die 74-Jährige. Sie begann, ein Buch zu schreiben. Und legte es immer wieder zur Seite. „Weil mir das Thema zu schwer war.“
Jetzt ist es fertig. Es heißt „Irrlichtern“. Auf der Vorderseite ist das Foto eines kleinen Mädchens zu sehen: Gudrun als Verschickungskind, irgendwo am Meer. Man sieht, dass die Kleine weint - obwohl genau das verboten war. Sie habe noch drei andere Fotos aus der Zeit, erzählt die pensionierte Gesamtschullehrerin. Auf diesen würde gelacht. Was Gudrun Güth für gestellt hält: „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass unter den Kindern dort jemals so etwas wie Fröhlichkeit existiert hätte.“

„Irrlichtern“ (Herzsprung-Verlag) ist eine atmosphärisch dichte Erzählung. Sie spielt 1990. Im Mittelpunkt steht Clara. Sie hat ihren Job gekündigt und zieht mit ihrem Partner nach Curheide ans Meer - genau an den Ort, wo ihr als Verschickungskind in einem Kurheim Schreckliches widerfahren ist. Alte Erinnerungen kommen zurück, sie durchlebt ihr Trauma erneut. Gleichzeitig kommt es in dem Ort zu rätselhaften Bränden. Und Clara lernt ein kleines Mädchen kennen, das in einem neuen Erholungsheim untergebracht ist - und beschließt, es zu beschützen.
Sie durfte nicht weinen und kein Heimweh haben
„Die Handlung ist fiktiv und die Personen sind frei erfunden“, sagt die Autorin von Kinder- und Jugendbüchern, Kurzgeschichten und Lyrik. Gleichwohl seien ihre eigenen, realen Erlebnisse eingeflossen. Etwa die, dass sie ihr Erbrochenes essen musste. „Ich hatte damals ein Attest wegen meiner Hühnerei-Allergie“, erinnert sich die gebürtige Hagenerin. Abends habe es im „Erholungsheim“ dann Schnittchen mit Ei gegeben. „Die wurden mir zwangsweise in den Mund geschoben, woraufhin ich mich natürlich übergeben habe. Das musste ich dann mit dem Löffel wieder aufschaufeln.“ Aber das, sagt sie, sei ja die klassische Erfahrung nahezu aller Verschickungskinder. Nichts Besonderes also.
Und dann erzählt Gudrun Güth, wie sie als vier Jahre altes Verschickungskind einen Brief an die Eltern diktiert habe, der dann mit einem ganz anderen Wortlaut zu Hause angekommen sei. Das lege zumindest die Antwort aus der Heimat nahe: „Schön, dass es dir so gut geht.“ Sie erzählt, wie alle Kinder vor dem Schlafengehen „immer irgendetwas auf einem Stückchen Zucker eingeträufelt bekamen“. Weil sie sich an die Nächte nicht erinnern kann, „gehe ich davon aus, dass wir sediert wurden“. Und sie erzählt, dass sie kein Heimweh haben, nicht weinen und keinen Kontakt zu ihrem Bruder haben durfte: „Wenn ich ihm beim Spazierengehen begegnet bin und auf ihn zulaufen wollte, wurde ich zurückgerissen.“ Für die verheiratete Mutter eines Sohnes sind das rückblickend „unvorstellbare Methoden“ - und eine Strenge und Kaltherzigkeit, die sie aus ihrem eigenen liebevollen Zuhause nicht kannte. „Das Ganze hat bei denen, die solche Dinge erlebt haben, sicherlich Narben hinterlassen und lebenslange Auswirkungen.“
Irgendwann verstummte sie
Von der Nachkriegszeit bis in die 90er-Jahre hinein wurden in Deutschland Millionen Kinder verschickt. Eigentlich aus gesundheitlichen Gründen, wie es hieß. Aber warum machte Gudrun Güth, die mit einer Allergie und Asthma zu kämpfen hatte, dann so schlimme Erfahrungen? Die Waltroperin erklärt sich das damit, dass die schwarze Pädagogik oder Erziehungsstile aus der NS-Zeit damals noch eine Rolle gespielt hätten - ist aber irritiert darüber, dass sich die Berichte aus ganz unterschiedlichen Heimen so ähneln.
Wobei: Lange Zeit dachte die Autorin, dass sie und ihr Bruder mit ihren Erlebnissen alleine stünden. Bis sie auf den Verein „Aufarbeitungen Kinderverschickung NRW“ aufmerksam wurde. Dieser veranstaltete im vergangenen Jahr in Dorsten einen Begegnungstag von Betroffenen. Gudrun Güth ging hin - und war überrascht, wie viele Menschen dort zusammenkamen, die als Kind traumatisiert statt erholt nach Hause zurückgekehrt waren. Vermutlich sei das Thema auch deshalb so lange totgeschwiegen worden, weil ja viele Heime kirchliche Träger gehabt hätten, vermutet die 74-Jährige. So habe man ihr auch nicht geglaubt, als sie sich als Kind beklagt hatte. Deshalb sei sie verstummt und habe „unendlich lange gebraucht, um mich diesem Thema zu stellen“.

Das Buch ist nun das Ergebnis dieses Prozesses. Schwung bekommen hat dieser zuletzt auch durch einen Schreib-Workshop des Vereins „Aufarbeitungen Kinderverschickung NRW“. Sie wolle mit „Irrlichtern“ das viel zu lange verborgene Leid der Verschickungskinder öffentlich machen, sagt Güth - und zwar nicht in Form eines Sachbuchs, sondern auf literarische Art und Weise. Sie habe es für die Betroffenen geschrieben. Für die Menschen, die nichts von diesen Vorfällen wissen. „Und natürlich hat es auch mit meiner eigenen Aufarbeitung zu tun.“
In die Fantasiewelt abgetaucht
Möglicherweise, überlegt die Hunde- und Kanalliebhaberin laut, hätten die Kinderkurheime auch dazu beigetragen, dass sie überhaupt Schriftstellerin geworden ist. Weil sie als Kind in eine innere Fantasiewelt abgetaucht sei, um der schrecklichen äußeren Umwelt zu entgehen.
Am 30. Oktober wird Gudrun Güth ihr Buch im 3. Ort vorstellen - und hat sich vorgenommen, die Lesung dann trotz allem eher positiv ausklingen zu lassen. „Viele der ehemaligen Verschickungskinder meistern schließlich durchaus ihr Leben, wir sind ja nicht alle seelisch verkrüppelt oder so“, sagt sie. Ihre Traurigkeit wurde in den vergangenen Jahren immer mehr vom Zorn abgelöst. Das hat ihr dabei geholfen, aus der Opferrolle herauszukommen, sich zu wehren - und so ein Buch zu schreiben.