Viele Erdogan-Wähler in Deutschland RN-Experte erklärt, woran das liegt

Von Ahmet Toprak
Viele Erdogan-Wähler in Deutschland: RN-Experte erklärt, woran das liegt
Lesezeit

Kaum haben rund 63 Millionen Wahlberechtigte in der Türkei ihre zwei Stimmen für Parlaments- und Präsidentschaftswahlen abgegeben, schon tobt die Diskussion über das Demokratieverständnis der türkeistämmigen Migrantinnen und Migranten in Deutschland.

Woran es liegt, dass es viele Unterstützter von Recep Tayyip Erdogan in Deutschlang gibt, erklärt Professor Ahmet Toprak von der Fachhochschule Dortmund in seinem Gastbeitrag.

Das Hauptargument, das in Deutschland immer wieder ins Feld geführt wird, ist folgendermaßen: Wie kann man von demokratischen Freiheiten hier in Deutschland profitieren und in der Türkei einem Despoten die Stimme geben, der Minderheiten- und Menschenrechte einschränkt und Oppositionelle ins Gefängnis wirft? Das Argument ist zwar konsistent und verständlich. Aber für die Wählerschaft von Erdogan aus unterschiedlichen Gründen nicht nachvollziehbar.

Zunächst aber einige Fakten: In Deutschland leben circa drei Millionen türkeistämmige Migrantinnen und Migranten. Lediglich gut die Hälfte von ihnen hat einen türkischen Pass und ist somit in der Türkei wahlberechtigt, die andere Hälfte darf erst gar nicht wählen, weil sie eingebürgert ist. Am 14. Mai 2023 haben 65,49 Prozent oder genau 475.593 Personen dem Amtsinhaber Erdogan ihre Stimme aus Deutschland gegeben, 32,52 Prozent oder 236.127 votierten für den Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu.

Professor Ahmet Toprak ist Teil des Expertenkreises der Ruhr Nachrichten. Er lehrt an der Fachhochschule Dortmund im Bereich der Erziehungswissenschaften. Als RN-Experte beurteilt und kommentiert er für uns aktuelle Entwicklungen rund um die Themen Jugendlicher und Migration. Alle RN-Experten finden Sie hier.

Professor Ahmet Toprak
Professor Ahmet Toprak lehrt an der Fachhochschule Dortmund im Bereich Erziehungswissenschaften. © Marcus Heine

Die anderen beiden Kandidaten kamen zusammen auf gut zwei Prozent. In unseren Nachbarländern Niederlanden (68 Prozent), Österreich (71,96 Prozent) oder Belgien (72 Prozent) ist die Situation ähnlich oder sogar noch eindeutiger pro Erdogan. Warum wählen aber so viele Menschen aus mitteleuropäischer Perspektive einen antidemokratischen Machthaber? Dafür können drei zentrale Motive ausgemacht werden.

Die ideologische Nähe zu Erdogan

Wenn wir uns die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland näher ansehen, stellen wir fest, dass in erster Linie Menschen aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, die aus Zentralanatolien oder aus der Schwarzmeerküste stammen. Das sind die Hochburgen der AKP-Regierung, der Erdogan vorsteht. Blinder Gehorsam, Führerkult oder Stramm stehen, ist in diesen Bevölkerungsschichten das oberste Prinzip.

Außerdem sind die Menschen aus diesen Gegenden wie Erdogan auch religiös-konservativ. Weil er einer von ihnen ist, glauben sie alles, was er sagt, ohne Widerspruch. Zwei Beispiele verdeutlichen das eindrucksvoll. Anfang des Jahres ereignete sich ein verehrendes Erdbeben im Südosten des Landes. Mindestens 50.000 Menschen haben ihr Leben verloren. Es gab viel Kritik an seinem Krisenmanagement. Erdogan hat dieses Ereignis gottgegeben von sich gewiesen und hatte damit Erfolg. Mit der verheerenden Wirtschaftskrise habe er auch nichts zu tun. Daran sei der „böse Westen“, Corona oder der Ukraine-Krieg schuld. Diese Erzählung kommt bei seinen Anhängern gut an, vor allem aber bei seinen Anhängern in Deutschland.

Das Demokratieverständnis

Mit dem Argument der Demokratie kann man die Wählerschaft von Erdogan nicht erreichen, weder in der Türkei noch hier in Deutschaland. Denn unter undemokratischen Verboten und Repressalien leiden seine Anhänger nicht. Wenn man Erdogan und seine Regierung unterstützt, hat man nichts zu befürchten, denn alle Rechte der Bürger werden eingehalten. Wenn seine Anhänger sich auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul zur Kundgebung versammeln, ist das kein Problem. Der Opposition wird es grundsätzlich wegen Sicherheitsbedenken nicht erlaubt. Und es lässt sich auch immer einen Richter finden, der dieses Verbot bestätigt.

Das heißt, die Anhänger von Erdogan bekommen alle ihre demokratischen Rechte, die sie benötigen. Verbote und Repressalien gelten für die Opposition. Deshalb ist es vielen nicht verständlich, warum Erdogan hier in Deutschland als Despot und Antidemokrat bezeichnet wird. Weil der Großteil der Menschen hierzulande türkische Medien konsumiert, die 90 Prozent von Erdogan kontrolliert wird, glauben sie das Narrativ einer demokratischen und freien Türkei.

Die „Erfolge“ bei der Infrastruktur

Seine Anhänger glauben immer noch, dass Erdogan es war, der der Türkei Autobahnen, Straßen, Krankenhäuser und moderne Fußballstadien gebracht hat. Erdogan war während des Wahlkampfes nicht müde, jede erdenklich kleine Brücke oder einen Autobahnabschnitt persönlich einzuweihen und dabei darauf hinzuweisen, was seine Regierung alles geschafft hat. Selbstverständlich wurden diese Eröffnungen von mindestens zehn Sendern gleichzeitig live übertragen.

Er hat während eines Wahlkampfes sogar behauptet, dass er das Internet in die Türkei gebracht habe. Vor allem beeindruckt er mit dieser Politik Menschen in Deutschland. Denn diese Projekte sind für Türkeistämmige sichtbar, wen sie in ihre Heimatdörfer oder Städte fahren. Vermutlich wären diese Dinge auch ohne Erdogan gekommen. Aber Erdogan reklamiert das für sich und hat Erfolg damit. Denn die Türkeistämmigen in Deutschland bekommen dadurch das Gefühl mit Europa mitzuhalten.

Mit dem Hinweis oder der Empörung, warum wählt man einen Despoten, während man hier in Freiheit lebt, wird man keinen einzigen Erdogan-Anhänger erreichen oder umstimmen. Im Gegenteil: viele werden ihn aus Trotz erst recht wählen. Es gibt aber zwei Alternativen. Entweder wir akzeptieren die Wahlentscheidung der Menschen, auch wenn das schwer erträglich ist oder wir zeigen diesen Menschen Wege auf, sich in diesem Land besser zurechtzufinden.