Vernichtende Kritik von 31 Professoren Mehr zu arbeiten lohnt sich längst nicht immer

Vernichtende Kritik von 31 Professoren: Mehr zu arbeiten lohnt sich längst nicht immer
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Ulrich Breulmann

Diese 24 Seiten, vollgeschrieben von 31 Professorinnen und Professoren, sind Sprengstoff. Ihr Papier nimmt die aktuelle Grundsicherung – vom Bürger- bis zum Wohngeld – auseinander. Die Experten zeigen: Manchmal lohnt es sich nicht, länger zu arbeiten als bisher. Zuweilen hat jemand sogar mehr Geld in der Tasche, wenn er weniger arbeitet.

Das klingt verrückt, aber die Wissenschaftler rechnen das in ihrem Gutachten „Reform der Grundsicherung“ vor. Um Gerüchten vorzubeugen: Diese Gutachter sind weder notorische Nörgler noch von einer Interessengruppe „gekauft“. Im Gegenteil: Die 31 Expertinnen und Experten von Unis aus ganz Deutschland bilden den „Wissenschaftlichen Beirat“ des Bundesfinanzministeriums. Das Gremien ist unabhängig und entscheidet selbst, wer bei ihm mitarbeiten darf.

Vor einigen Wochen legte der Beirat also dieses Gutachten vor. Darin ist die Rede von fehlenden „Arbeitsanreizen“, fehlenden „einheitlichen und transparenten Hinzuverdienstregelungen“ und „fundamentalen Problemen für eine bedarfsgerechte Grundsicherung“.

Das alles sind erst einmal Schlagworte. Was das konkret bedeutet, hat „DIE ZEIT“ anhand des Gutachtens durchgerechnet. Das Beispiel: Ein in München lebendes Ehepaar mit zwei Kindern (7 bis 14 Jahre alt) und einem Alleinverdiener. Bei einem Bruttoeinkommen von 4.000 Euro kommt die Familie inklusive aller Sozialleistungen (Kindergeld, Kindergeldzuschlag, Wohngeld etc.) auf 4.125 Euro netto im Monat.

Länger arbeiten? In unserem Beispiel eine ganz schlechte Idee!

Würde der Alleinverdiener seine Arbeitszeit um ein Viertel kürzen, so dass er auf 3.000 Euro brutto käme, würde er im Monat 4.026 Euro erhalten. 1.000 Euro brutto, aber nur 99 Euro netto weniger. Lohnt sich da das Arbeiten? Sollte man da nicht besser mehr Zeit mit seiner Familie verbringen?

Noch krasser wird es, wenn der Alleinverdiener länger arbeiten würde, um auf 5.000 Euro brutto im Monat zu kommen. Eine ganz schlechte Idee, denn: In dem Fall hätte er inklusive aller Sozialleistungen 4.103 Euro netto in der Tasche – also sogar 22 Euro weniger als bei 4.000 Euro brutto. Da müsste schon von allen guten Geistern verlassen sein, wer mehr arbeiten würde.

Die Wissenschaftler räumen ein, dass solche Berechnungen nicht für alle Menschen und Familienkonstellationen an jedem Standort gleich sind. Dazu seien etwa Wohn- und Heizkosten und damit die Zuschüsse des Staates von Ort zu Ort zu unterschiedlich. Klar sei jedoch, dass die geltenden Regeln zu wenig Anreize setzen, mehr zu arbeiten.

Zwei unterschiedliche Systeme der Grundsicherung

Der Hauptgrund für die ganze Misere liegt laut Gutachten in den zwei verschiedenen Systemen der Grundsicherung. Zum einen das Bürgergeld für erwerbsfähige Menschen mit keinem oder geringem Einkommen.

Zum anderen für Geringverdiener ein zweites System mit diversen Leistungen wie Wohngeld, Kinderzuschlag und Kindergeld. Letztere sind zum Teil abhängig vom Einkommen und/ oder Wohnort. Und dann gibt es Konstellationen mit Kombinationen aus beiden Formen der Grundsicherung. Das alles ist höchst kompliziert.

Das Sprichwort vom Brei und den vielen Köchen

Hinzukommt: Für alle Leistungen der Grundsicherung sind am Ende drei verschiedene Bundesministerien zuständig. So etwas geht eigentlich nie gut – das kennen wir schon aus dem Sprichwort vom Brei und den vielen Köchen. Die Gutachter schlagen daher eine einzige, neue Form der Grundsicherung vor, die zu einer „bedarfsgerechten Grundsicherung“ führe.

Vor allem soll die neue Grundsicherung eines garantieren: Wer länger arbeitet, für den soll sich das lohnen. Ihm sollen also nicht sofort alle „Transferleistungen“ so stark gekürzt werden, dass er sich sagt: „Für die paar Kröten mehr bleibe ich keine Stunde länger“.

Dabei täte genau das unserem Staat gut. Von der Pflege bis zur Kneipe, vom Handwerk bis zum Handel, von Kitas bis zu Schulen – mir fällt keine Branche ein, die nicht über Fachkräftemangel klagt. Wobei das auf den ersten Blick erstaunlich ist, denn: Noch nie waren in Deutschland so viele Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt wie heute. Derzeit sind es 46 Millionen. 1997 waren es nur 37,7 Millionen.

Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten steigt und steigt

Das Problem: Die Zahl der Teilzeit-Beschäftigten steigt und steigt. Im Jahr 2000 betrug ihre Quote rund 20 Prozent. Jetzt sind es 28,8 Prozent.

Ziel müsste es doch sein, möglichst viele dieser Teilzeitkräfte in eine ganze Stelle zu locken. Diese Menschen muss man nämlich nicht anwerben, ausbilden oder umschulen, man muss es für sie nur lukrativ machen, länger zu arbeiten.

Das Ziel erreicht man nicht, wenn Gesetze dafür sorgen, dass jemand kaum mehr oder sogar weniger Geld erhält, wenn er länger arbeitet. Die Gutachter sagen: Dazu braucht es eine grundlegende Reform der Grundsicherung. Also, worauf wartet ihr Männer und Frauen in der Regierung?

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