Verdi streikt für 10,5 Prozent Forderung ist nur unter einer Bedingung vertretbar

Verdi streikt für 10,5 Prozent: Völlig okay, aber nur bei dieser Art der Finanzierung
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Ulrich Breulmann

Es ist verständlich, dass die Beschäftigten von Bund und Kommunen im Öffentlichen Dienst mehr Geld fordern. Eine Inflation um die zehn Prozent ist eine nette Umschreibung für einen ganz realen Kaufkraftverlust. Zehn Prozent höhere Preise bedeuten eben ganz konkret, dass ich mir für das gleiche Geld heute rund zehn Prozent weniger kaufen kann als vor einem Jahr.

Vor diesem Hintergrund ist die Forderung der Gewerkschaft Verdi nach 10,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt zwar hoch, aber nachvollziehbar. Und dass dabei für untere Lohngruppen ein Sockelbetrag von 500 Euro gefordert wird, ist aus der sozialen Perspektive betrachtet auch verständlich.

Die Arbeitgeber haben ungewöhnlich früh schon in der zweiten Verhandlungsrunde ein Angebot vorgelegt: Insgesamt – wenn auch in zwei Schritten – 5 Prozent mehr Lohn und Gehalt und zudem 2.500 Euro steuerfreier Inflationsausgleich.

Angebot der Arbeitgeber stört den Verdi-Kampfmodus

Daraufhin setzte das typische Geplänkel ein. Verdi konnte ja schlecht sagen, dass sie das frühe Angebot positiv überrascht hat und man darin eine Basis für weitere Gespräche sieht. Das hätte nicht zum Kampfmodus gepasst.

Also empörte sich Verdi in gewohnter Weise über das „viel zu mickrige, inakzeptable“ Angebot und kündigte eine Ausweitung der Warnstreiks in NRW bis zur nächsten Runde Ende März an.

Die Leidtragenden sind wieder einmal Mütter und Väter, die ihre Kinder nicht in die Kitas bringen können. Menschen, die ohne Bus und Bahn nicht wissen, wie sie zur Arbeit oder zur Schule kommen sollen. Männer und Frauen, die sich das ganze Jahr auf ein paar Wochen Urlaub gefreut haben und jetzt am Flughafen stranden.

Mir ist schon klar, dass ein Streik nur wirkt, wenn er auch wehtut. Ich halte die Warnstreiks in der jetzigen Ausprägung allerdings für absolut unangemessen. Dafür drei Argumente:

Löhne steigen seit 2012 um rund 30 Prozent

1. Es ist nicht so, dass der Öffentliche Dienst in den vergangenen zehn Jahren bei der Lohnentwicklung immer zurückstecken musste. 2012 gab es 3,5 Prozent mehr, 2013 3,5 Prozent, 2014 3 Prozent; 2015 2,4 Prozent, 2016 2,4 Prozent, 2017 2,35 Prozent, 2018 3,2 Prozent, 2019 3,1 Prozent, 2020 1,06 Prozent, 2021 1,4 Prozent und 2022 1,4 Prozent. Rechnet man das zusammen, bedeutet das seit 2012 einen Anstieg der Löhne und Gehälter um rund 30 Prozent. Und dabei sind Sockelbeträge und Einmalzahlungen noch nicht eingerechnet.

Klar, man kann sich immer mehr wünschen, aber ganz wenig ist das nicht. Da wäre es durchaus angebracht, wenn die Gewerkschafter jetzt erst einmal in Ruhe weiterverhandeln. Stattdessen tragen sie auf dem Rücken der Menschen, die ihre Gehälter bezahlen und nichts dafür können, ihre kleinkarierten, ritualisierten Machtkämpfe mit den immer gleichen martialischen Sprüchen aus. Mich stößt das eher ab als dass es Sympathien für die Gewerkschaftsseite weckt.

Lohnerhöhungen heizen die Preise an

2. Jede Lohnerhöhung heizt die Inflation weiter an, denn es ist doch klar: Wenn die Produktionskosten steigen, steigen am Ende auch die Preise. Auch die Preise, die die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes bezahlen müssen.

Private Unternehmen versuchen in der Regel noch, Sparpotenziale auszunutzen, bevor sie an der Preisschraube drehen, denn: Im Wettbewerb mit anderen können gestiegene Preise die Nachfrage bremsen. Das aber wäre schlecht fürs Geschäft.

In den Verwaltungen ist alles anders

3. In den Verwaltungen in unserem Land scheint es dagegen gänzlich anders zu sein. Da wird nicht Bestehendes hinterfragt, sondern einfach nur draufgesattelt. Dazu einige Zahlen und Fakten: Bundesweit ist die Zahl der Vollzeit-Beschäftigten in den Kommunen zwischen 2012 und 2021 laut Statistischem Bundesamt um 17,1 Prozent auf aktuell 984.200 gestiegen, dazu gab es bei den Teilzeitbeschäftigten einen Anstieg um 23,5 Prozent auf 641.700 Beschäftigte.

In den Kommunen in Nordrhein-Westfalen stieg laut Statistischem Landesamt it.nrw die Zahl der Stellen (Teilzeitstellen auf ganze Stellen umgerechnet) von 253.520 im Jahr 2012 auf 302.335 Stellen im Jahr 2021. Ein Anstieg um 19,3 Prozent. Man kann es auch so ausdrücken: In den vergangenen zehn Jahren haben die Städte, Gemeinden und Kreise in NRW jedes Team von fünf Beschäftigten um eine weitere Stelle aufgestockt.

Mag sein, dass in den vergangenen Jahren so manche Aufgabe dazugekommen ist. Was aber offensichtlich ist: Es wurden definitiv nicht an anderer Stelle in gleichem Maße Stellen abgebaut. Und genau das bietet aus meiner Sicht auch einen Ansatz, um den aktuellen Tarifkonflikt zu lösen.

Es liegt nicht am Können, sondern am Wollen

Wenn der Öffentliche Dienst die Zahl seiner Stellen in den Kommunen nur um 10 Prozent kürzen und damit zumindest auf den durchaus komfortablen Stand von 2017 zurückfahren würde, gäbe es Spielraum, den Verbleibenden höhere Löhne und Gehälter zu bezahlen, ohne gleich die Steuerzahler zu belasten.

Ich fürchte nur, dass es eine solche am Ende kostenneutrale Lösung im Sinne der großen Allgemeinheit unseres Landes nicht geben wird, denn: Stellen zu streichen, Aufgaben zu bündeln, Überflüssiges und Überholtes wegzulassen, Strukturen zu verschlanken, Prozesse zu optimieren, Synergieeffekte zu nutzen, die Sinnhaftigkeit von bestimmten ganzen Verwaltungsebenen zu hinterfragen, ist gleichermaßen anstrengend für Arbeitgeber, Politiker und Beschäftigte.

Da ist es doch wesentlich einfacher, die Hand aufzuhalten, eine zerknirschte Miene aufzusetzen und am Ende in die Kamera zu heucheln: „Es ist ein harter Kompromiss, den wir gefunden haben, und er belastet uns bis an die Grenzen, aber wir konnten nicht anders.“ Doch, am Können liegt es nicht, es ist eine Frage des Wollens.

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