Drei Personen vor einer ukrainischen Flagge

Lassen sich von Putins Teilmobilmachung nicht beunruhigen: (v.r.) Dolmetscher Artjom Böttcher, der in Oer-Erkenschwick lebende Ukrainer Valentin Mitrovanow mit seinem Enkel Matwej. © Mathias Reding (pexels.com) / Jörg Müller

Ukrainer in Oer-Erkenschwick: „Wir haben vor der russischen Armee keine Angst“

rnPutins Teilmobilmachung

Valentin Mitrovanow aus der Ukraine lebt seit März in Oer-Erkenschwick. Er fürchtet um das Leben von Freunden in seiner Heimat. Die Teilmobilmachung in Russland beunruhigt den 61-Jährigen jedoch weniger.

Oer-Erkenschwick

, 21.09.2022, 17:20 Uhr / Lesedauer: 3 min

„Dass Putin jetzt weitere, vor allem junge Menschen an die Front schickt, ist furchtbar. Mich macht das Sterben im Ukraine-Krieg auf beiden Seiten sehr traurig. Aber als Ukrainer sage ich auch: Lass die Russen nach ihrer Teilmobilmachung weitere Soldaten in die Ukraine schicken. Unsere Armee wird standhalten. Die ukrainischen Soldaten kämpfen mit Herz und Leidenschaft für ihre Heimat“, sagt Valentin Mitrovanow, der am 14. März, an seinem 61. Geburtstag, nach Oer-Erkenschwick gekommen ist.

Oer-Erkenschwick war dem Rentner schon lange bekannt

Oer-Erkenschwick war dem heutigen Rentner am Tag seiner Ankunft schon seit vielen Jahren bekannt. Der 61-Jährige war als Berufskraftfahrer schon einige Male mit seinem großen Lkw beim Unternehmen Westfleisch. Und auf dem Parkplatz vor dem Betriebsgelände hatte er 2011 Artjom Böttcher, den Sohn einer kasachischen Spätaussiedler-Familie kennengelernt. Der heute 43-jährige Böttcher kam als Zwölfjähriger nach Oer-Erkenschwick. Heute ist der Kfz-Techniker verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern glücklich und zufrieden am Stimberg. „Ich ging 2011 mit meinem Hund auf dem Parkplatz spazieren. Da hörte ich Valentin Russisch sprechen und bin einfach zu ihm gegangen“, erinnert sich Böttcher. Das Treffen war - wie sich Jahre später herausstellte - ein Glücksfall für Valentin Mitrovanow und seine Familie.

Eine Menschengruppe vor einem Container

In Oer-Erkenschwick gab es seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine einige Benefizaktionen: So stellten diese Mitglieder des Kinder- und Jugendparlaments (KiJuPa) und des Vereins Club 50plus aus Oer-Erkenschwick Ende April eine Benefiz-Gala zugunsten von aus der Ukraine Geflüchteten auf die Beine. © Jörg Müller

Freundschaft zwischen Oer-Erkenschwick und Krementschuk

Der ukrainische Kraftfahrer und der Deutsche mit kasachischen Wurzeln, der fließend Russisch spricht, blieben in Kontakt. Mit den Jahren entstand eine Freundschaft, die Valentin Mitrovanow und seiner Familie möglicherweise das Leben gerettet hat. 2018 war Artjom Böttcher aus Oer-Erkenschwick zum ersten Mal in Mitrovanows Heimatstadt Krementschuk. Der ehemals 220.000 Einwohner zählende Ort liegt beidseitig am Dnepr und 100 Kilometer von der Front im Osten entfernt. 2021 war Artjom Böttcher sogar mit seiner Frau bei der befreundeten Familie in der Ukraine.

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Freund aus Oer-Erkenschwick half bei der Flucht aus der Ukraine

Am 24. Februar begann dann der Überfall russischer Truppen auf die Ukraine. Zunächst kam die russische Armee gut voran. „Da wurde mir klar, dass ich meine Familie retten musste“, erzählt Valentin Mitrovanow mit leiser Stimme bei einem Treffen auf dem „roten Platz“ in Oer-Erkenschwick. „Mein erster Gedanke war damals: Ich muss den Artjom anrufen.“ Gesagt getan. Zusammen mit seinem Freund aus Oer-Erkenschwick organisierte er die Flucht aus Krementschuk. Am 13. März nahm Artjom Böttcher an der polnisch-ukrainischen Grenze schließlich zwei Kinder und Enkel in Empfang, die mit dem Zug angereist kamen. Valentin Mitrovanow kam einen Tag später - im Auto mit Ehefrau, Tochter und zwei Enkeln. Alle jüngeren Männer der Familie blieben in der Ukraine. Sie verteidigen ihr Land.

Menschen halten eine Ukraine-Flagge hoch.

Schon im März hatte eine Friedensdemo (Symbolfoto) für die Ukraine in Oer-Erkenschwick stattgefunden. © picture alliance/dpa

Nachts musste die Familie in Bunkern schlafen

„Die Fahrt war ein Abenteuer. Nachts mussten wir in Bunkern schlafen, weil wir nicht fahren durften. Ich bin so dankbar, dass wir Oer-Erkenschwick alle unversehrt erreicht haben“, sagt der Ukrainer. Dass die Flucht die richtige Entscheidung war, zeigte sich wenige Monate nach der Ankunft in Oer-Erkenschwick. Denn am 27. Juni erlangte Mitrovanows Heimatstadt traurige Berühmtheit, nachdem eine russische Rakete das dortige Einkaufszentrum vollends zerstört hatte. „Dorthin sind meine Frau und ich auch immer zum Einkaufen gegangen“, sagt der Ukrainer und schüttelt sich wegen der dunklen Erinnerungen.

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Immer wieder wurde die ukrainische Heimatstadt angegriffen

Auch in den Folgemonaten wurde Krementschuk immer wieder angegriffen. „Zuletzt haben russische Raketen das Zentralheizungskraftwerk für die gesamte Großstadt zerstört. Alle Menschen dort haben nun keine Heizung mehr in den Wohnungen. Und der kalte Herbst und der Winter nahen“, erzählt Valentin Mitrovanow. Über eine Smartphone-App verfolgt der 61-Jährige das Kriegsgeschehen rund um Krementschuk. Auch Fliegeralarm wird aufs Handy gemeldet. „Dann bin ich in Gedanken bei denen, die noch dort sind“, sagt der Ukrainer leise.

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Dankbar für die gute Aufnahme in Oer-Erkenschwick

Valentin Mitrovanow ist nicht nur dankbar, dass er mit seiner Familie in Oer-Erkenschwick gut aufgenommen worden ist. „Ich danke auch für die Unterstützung der ukrainischen Armee durch Deutschland und viele andere westliche Staaten. Ohne die wäre die jetzige ukrainische Gegenoffensive nicht so erfolgreich“, ist sich der 61-Jährige sicher. „Aber der russische Angriff hat die Menschen in der Ukraine noch mehr zusammengeschweißt. Alle Menschen helfen und unterstützen sich. Und unsere Soldaten kämpfen mit Herz. Für die Freiheit ihrer Familien und für ihre Heimat“, sagt Mitrovanow.

Atomwaffen: Valentin Mitrovanow hofft auf „Restverstand Putins“

Dass Russland nun neben der Teilmobilmachung auch Referenden in den besetzten Gebieten abhalten und die ukrainischen Ostprovinzen zu russischem Staatsgebiet erklären will, davon hat Valentin Mitrovanow natürlich auch gehört. Und auch in seinem Bekanntenkreis wird darüber diskutiert, ob Putin bei einem anhaltenden militärischen Erfolg der Ukraine womöglich Atomwaffen einsetzen würde. Doch der 61-Jährige bleibt ruhig. „Wir leben im Jahr 2022. Und ich gehe davon aus, dass Putin zumindest noch so viel Restverstand in seinem Kopf hat, dass er keinen Atomkrieg anzetteln und die Welt in den Abgrund stürzen wird.“

Als er das sagt, nimmt Valentin Mitrovanow seinen siebenjährigen Enkel Matwej in den Arm. „Er soll in Frieden groß werden“, sagt der 61-Jährige leise und streicht dem Jungen über den Kopf...