Urenco-Chef Dr. Jörg Harren aus Marl: Deutschland verspielt Führungsrolle in der Wirtschaft

Dr. Jörg Harren: Deutschland verspielt Führungsrolle
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Im Oktober 2021 hat Dr. Jörg Harren die Standortleitung des Chemieparks Marl abgegeben. Der 54-jährige Marler ist seitdem Geschäftsführer des Unternehmens Urenco Deutschland, das in Gronau die einzige deutsche Anlage zur Anreicherung von Uran betreibt.

War es für Sie rückblickend die richtige Entscheidung, den Chemiekonzern Evonik zu verlassen?

Evonik ist ein gutes Unternehmen, dem ich viel zu verdanken habe. Für mich stellte sich mit 52 Jahren und nach 25 Jahren in derselben Firma aber auch die Frage, ob ich noch einmal etwas ganz anderes mache. Ich habe bei Evonik im Chemiepark Marl eine ganz großartige Zeit mit großen Investitionsprojekten begleiten können. Das Unternehmen hat mir offensichtlich auch Eignung für andere Positionen mitgegeben. Dann kam die Gelegenheit, bei der Urenco zu arbeiten. Die Firma kannte ich bereits - ich komme ja aus Aachen, und Urenco hat einen großen Standort in Jülich.

Im Chemiepark gibt es rund 10.000 Beschäftigte. Wie groß ist der Standort der Urenco in Gronau?

Bei der Urenco in Gronau arbeiten circa 400 Menschen. Es gibt die Urenco Deutschland GmbH, deren Geschäftsführer ich bin und den Forschungsbereich Urenco Technology Development. Dazu kommen weitere 100 Mitarbeiter von Partnerfirmen. Man kennt alle, das ist der Unterschied zum Chemiepark, wo mich alle kannten, aber umgekehrt eben nicht. Urenco, das ist wirklich wie ein Familienunternehmen.

Dr. Jörg Harren in seinem Büro bei der Urenco in Gronau.
Dr. Jörg Harren in seinem Büro bei der Urenco in Gronau. © Urenco

Haben Sie sich früher vorstellen können, dass Sie sich beruflich jemals mit dem Thema Atomenergie beschäftigen würden?

Nein, das kam erst im Zusammenhang mit dem Stellenangebot. Die Firma suchte jemanden, der Management-Erfahrungen, eine naturwissenschaftliche Ausbildung und Erfahrung mit komplexen Genehmigungsverfahren hat. Als Geschäftsführer trage ich aber auch die Verantwortung für den technischen Ablauf. Atomwirtschaft ist eine hoch regulierte Industrie. Das habe ich mir früher so nicht vorstellen können.

Was ist anders als in der chemischen Industrie?

Chemie steht auch immer in der Kritik oder ist erklärungsbedürftig, aber eine ideologisierte Feindschaft nach dem Motto „Mir ist das alles egal, was da passiert, aber diese Firma muss weg“, das habe ich so noch nicht erlebt. Da gibt es Menschen, die sagen, „das ist absolutes Teufelswerk und das lehne ich ab.“

In der Politik wird diese Haltung von den Grünen vertreten. Das ist - zumindest bei den älteren Grünen - deren politische DNA. In Deutschland wurde über Jahrzehnte die Haltung platziert, Atomkraft ist schlecht und gefährlich. Anti-Atompolitik wird bei uns in der Schule gelehrt. Dabei sind die Prozesse in der Atomwirtschaft so abgesichert und so hoch reguliert. Unter diesen Maßstäben würden Sie keine Chemieanlage genehmigt bekommen.

Kaskaden mit Zentrifugen zur Urananreicherungen in Gronau.
Kaskaden mit Zentrifugen zur Uranareicherung in Gronau. © Urenco

Was würden Sie den Leuten sagen, die Atomenergie total ablehnen?

Ich würde ihnen sagen, wenn ihr was ablehnt, müsst ihr auch eine Lösung anbieten. Wir schalten Kraftwerke ab und haben keine Alternative. Also erstmal muss ich doch wissen, was ich stattdessen mache. Wir diskutieren ernsthaft über die Frage, was ist mit nuklearen Endlagern in 500.000 Jahren? Und wir haben gleichzeitig sieben Jahre Restbudget für CO2. Ansonsten werden Kipppunkte erreicht, die unwiederbringlich sind und zu gigantischen Schäden führen. Wir emittieren pro Jahr 30 Mio. Tonnen CO2 mehr als wir müssten, wenn wir die fünf bis sechs lauffähigen Kernkraftwerke laufen ließen.

Und damit stehen wir allein da?

Die industriell relevanten Länder folgen uns nicht. Unsere Nachbarländer sind schockiert. Die können einfach nicht fassen, was wir hier tun und fragen uns: „Ihr habt die modernsten Kraftwerke der Welt, die verlässlichsten überhaupt. Die schaltet ihr doch nicht ab?“ Aber wir machen das. Der 15. April war für mich ein trauriger Tag.

Wir müssen aufhören, fossile Brennstoffe zu verbrennen. Was können wir tun? Wir haben Wind, wir haben Solar, wir haben aber wenig Fläche. Die Nachbarländer kommen zu einer pragmatischen Lösung. Die ist nicht frei von Problemen. Aber man setzt sich mit dem Thema auseinander, und das ist in Deutschland nicht möglich, zumindest nicht mit dem aktuellen Wirtschafts- und Klimaministerium.

Ein Blick in die Hallen der Uran-Aufbereitungsanlage.
Ein Blick in die Hallen der Uran-Aufbereitungsanlage. © Bernhard Ludewig

Kann die Energiewende ohne Atomstrom überhaupt gelingen?

Für die Energiewende muss man fünf Voraussetzungen erfüllen. Wir brauchen einen massiven Ausbau von erneuerbaren Energien. Wir brauchen eine grundlastfähige Elektrizitätserzeugung. Aber wir haben uns dafür entschieden, parasitär zu leben, von unseren Nachbarn abhängig zu sein - jedes Atomkraftwerk, das bei uns nicht steht, ist ja aus Sicht der Kritiker gut.

Dann brauchen wir Leitungsnetze und Batteriespeicher. Und wir benötigen eine Wasserstoffwirtschaft. Keine dieser Voraussetzungen ist erfüllt.

Was kommt in den nächsten Jahren auf uns zu?

Wir haben die höchste CO2-Emission in Deutschland. Wir haben die höchsten Preise und wir sind bei der Versorgungssicherheit zumindest wacklig. Wir müssen keine Angst vor dem Blackout haben. Da sind wir flexibel genug aufgestellt, nicht zuletzt durch unsere Nachbarländer. Aber wenn ich zum Beispiel an die chemische Industrie denke, macht mir das Sorgen. Wer soll denn in Deutschland noch investieren?

Wir schaffen die Voraussetzung, dass der Strompreis unendlich teuer wird, unter anderem, weil wir Atomkraftwerke abschalten. Und jetzt wollen wir ihn staatlich subventionieren für die Industrie. Wer bezahlt das auf die Dauer?

Deutschland war ein Jahrhundert Vorreiter - das Land der Ingenieure. Das haben wir aber verspielt, weil wir uns einfach jetzt lächerlich machen. Wir werden mit Sicherheit ein Grund sein für die Renaissance der Kernkraft in der Welt. Niemand wird unserem Weg folgen, weil er absolut absurd ist.

Rein rechnerisch kann die Versorgung nur mit erneuerbaren Energien nicht funktionieren. Wenn Sie die BASF in Ludwigshafen dekarbonisieren wollen, brauchen sie 43 Terawattstunden Strom. Das ist 30 Prozent mehr als der Verbrauch von Dänemark. Um den Frankfurter Flughafen mit synthetischem Kerosin zu versorgen - das sind fünf Millionen Kubikmeter pro Jahr - brauchen wir die gesamte Windkraft in Deutschland - alles, was installiert ist.

Der Leitstand am Standort der Urenco in Gronau.
Der Leitstand am Standort der Urenco in Gronau. © Bernhard Ludewig

Was bedeutet es für Urenco, dass Deutschland aus der Atomenergie ausgestiegen ist?

Das Unternehmen gehört je zu einem Drittel dem britischen Staat, den Niederlanden und Deutschland. In Deutschland gehören RWE und E.ON jeweils ein Sechstel der Anteile. Die Urenco arbeitet auf der Grundlage eines Staatsvertrags, der die wirtschaftliche Nutzung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Zentrifugentechnologie in seiner Präambel hat. Da kann man nicht einfach aussteigen. Das wäre ein Bruch eines völkerrechtlichen Vertrags. Im Gegensatz zu Kernkraftwerken hat Urenco eine unbefristete Betriebserlaubnis. Urenco ist neben einer Firma in Frankreich das einzige westliche Unternehmen, das Urananreicherung betreibt. Die gesamte westliche Welt inklusive Korea und Japan, aktuell mehr als 10 Prozent der westlichen Elektrizitätserzeugung hängt an diesen beiden Unternehmen. Der Urenco geht es gut. Wir erweitern, wir bauen aus. Selbst in Deutschland tauscht man Zentrifugen aus und fügt teilweise kleine Kapazitätserweiterungen hinzu. Es gibt Investitionen im dreistelligen Millionenbereich.

Welche Folgen hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine?

Auch die Ukraine ist hochgradig abhängig von der Kernkraft. Dass sie jetzt mit den Russen nichts zu tun haben will, ist klar. Sie ist daran interessiert, sich von uns komplett versorgen zu lassen. Im Moment machen wir uns alle Sorgen, wie es im größten Kernkraftwerk Europas Saporischschja im Süden der Ukraine aussieht. Das ist ein kritisches Thema, auf das ich auch keine Antwort habe. Dies ist aber nur eines der großen Probleme, die dieser schreckliche Krieg mit sich bringt.

Die Uranaufbereitungsanlage des Unternehmens Urenco in Gronau aus der Luft gesehen.
Die Uranaufbereitungsanlage des Unternehmens Urenco in Gronau aus der Luft gesehen. © Urenco