UN-Sicherheitsrat in New York Selenskyj bittet um reichweitenstarke Marschflugkörper

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Das UN-Hauptquartier in New York hat in den vergangenen Jahrzehnten eigentlich alles gesehen: Es wurde Frieden geschlossen und Krieg geschürt. Präsidenten und Könige, Papst Franziskus oder Nelson Mandela - alle waren sie hier.

Doch der Ausnahmezustand, in den der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Zentrale der Vereinten Nationen dieser Tage versetzt, fühlt sich anders an. Eng umringt von amerikanischen und ukrainischen Personenschützern, einige von ihnen wie er in militärischer Kleidung, bringt Selenskyj die Aura des Kriegs in seinem Land zur UN-Generaldebatte. Heute könnte er dem Aggressor erstmals im berühmten Sicherheitsrat gegenübertreten.

Der UN-Besuch ist bedeutsam

Der Aufwand, den die amerikanischen Sicherheitsdienste um Selenskyjs Besuch machen, kommt dem für den US-Präsidenten gleich. Schon vor Wochen begann die komplizierte Vorbereitung. Die UN-Zentrale gehört offiziell nicht zum amerikanischen Staatsgebiet und hat einen eigenen Sicherheitsdienst - Diplomaten, Journalisten und Lobbyisten aus Dutzenden Ländern laufen hier rum. Und es gilt als offenes Geheimnis, dass der ein oder andere Russe im Haus die Moskauer Geheimdienste nicht nur aus dem Fernsehen kennt. Aus diesem Grund ist Selenskyj selbst hier einem Risiko ausgesetzt - 7500 Kilometer und einen Ozean entfernt von Kiew, hinter einem hohen Zaun und mehreren Sicherheitskontrollen.

Doch der UN-Besuch angesichts des immer länger andauernden Krieges ist wichtig: Selenskyj ist hier, um sich die Unterstützung auch der Länder zu sichern, die davon genervt sind, dass ihre Probleme zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. In seiner Rede vor der Vollversammlung ist Selenskyjs Botschaft an die Skeptiker ebenso leidenschaftlich wie direkt: Wenn die Ukraine fällt, könntet Ihr die Nächsten sein.

Der 45-Jährige ist zum ersten Mal seit Kriegsbeginn zu den Vereinten Nationen gereist. Zu der Weltorganisation, die eigentlich den Frieden wahren soll und es in der Ukraine doch nicht konnte. Ende Februar 2022 fand hier, im Saal des Sicherheitsrates, eine der dramatischsten Sitzungen der jüngeren UN-Geschichte statt: Die Situation hatte sich über Wochen angebahnt. Und jetzt sah es so aus, als ob der Befehl von Russlands Präsidenten Wladimir Putin zum Einmarsch bevorstehe.

Russischer Außenminister Lawrow erwartet

Bei einer eiligst anberaumten Dringlichkeitssitzung war die Spannung spürbar. Eine Botschafterin am Tisch erzählte später, sie habe gefühlt, dass sie gerade Weltgeschichte miterlebe. Der sonst so nüchtern wirkende UN-Generalsekretär António Guterres richtete seinen Blick in die Kamera: „Präsident Putin, halten Sie Ihre Truppen davon ab, die Ukraine anzugreifen, geben Sie dem Frieden eine Chance“. Es dauerte nur 30 Minuten, bis ein Mitarbeiter noch während der Sitzung in sein Ohr flüsterte, der Mann im Kreml habe den Befehl zum Einmarsch erteilt.

In eben diesen Saal soll Selenskyj heute (17 Uhr MESZ) treten. Vor dem riesigen „Wandbild des Friedens“ wird er an dem runden Tisch Platz nehmen. Erwartet wird in Abwesenheit von Putin auch der russische Außenminister Sergej Lawrow. Der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kislizia spricht vom bedeutsamsten Treffen des mächtigsten UN-Gremiums. Auch wenn US-Präsident Joe Biden wohl nur seinen Außenminister Antony Blinken schicken wird.

Der Sicherheitsrat besteht aus 15 Ländern, fünf Vetomächten und zehn nicht-ständigen Mitgliedern - zudem können auf Anfrage auch andere Länder sprechen. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur will der Rat Selenskyj heute erlauben, schon zu Beginn der Sitzung das Wort zu ergreifen. Das könnten die Mitglieder mit 9 der 15 Stimmen durchsetzen, selbst wenn Russland sich dagegen stemmt - bei sogenannten prozeduralen Abstimmung gilt das Veto nicht.

Doch auch Lawrow, jahrelang selbst UN-Botschafter, kennt die Kniffe im Sicherheitsrat. Im vergangenen Jahr betrat er den Saal nur genau 23 Minuten lang für seine Ansprache und ignorierte den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba. Ein wilder Schlagabtausch Selenskyjs mit Lawrow erwarten die wenigsten. Doch im UN-Hauptquartier passieren die historischen Momente gern ohne Ankündigung.

Selenskyj bittet um reichweitenstarke Marschflugkörper

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat einmal mehr reichweitenstarke Marschflugkörper von den USA und anderen westlichen Partnern erbeten.

Sein Land plane nicht, damit Moskau oder andere Ziele auf russischem Boden anzugreifen, „wir wollen einfach unser Land retten“, sagte Selenskyj am Dienstag in einem Interview des Fernsehsenders CNN am Rande der UN-Vollversammlung in New York. In dem Interview sprach der 45-Jährige zum Teil Ukrainisch und zum Teil Englisch.

Selenskyj versucht Bedenken zu zerstreuen

Die Ukraine wünscht sich von den USA zur Abwehr des russischen Angriffskrieges seit längerem reichweitenstarke Marschflugkörper vom Typ ATACMS. Dies sind Lenkflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern vom US-Hersteller Lockheed Martin, die vom Boden aus gegen Ziele am Boden abgefeuert werden. Von Deutschland erbittet die Ukraine ein ähnliches Waffensystem, Marschflugkörper vom Typ Taurus. Sie sind für die Zerstörung von Bunkern und geschützten Gefechtsständen auf bis zu 500 Kilometer Entfernung geeignet.

Wegen der hohen Reichweite der Waffensysteme gibt es jedoch die Sorge, dass mit ihnen auch Ziele in Russland angegriffen werden könnten. Diese Bedenken versuchte Selenskyj zu zerstreuen, wie schon andere ukrainische Regierungsmitglieder vor ihm. Die Waffensysteme sollten allein zur Verteidigung eingesetzt werden, betonte er.

„Setzen Partner nicht unter Druck“

Auf die Frage, ob er enttäuscht wäre, wenn er ohne eine Zusage des Waffensystems wieder aus den USA abreisen würde, sagte Selenskyj, es wäre nicht wirklich eine Enttäuschung. Es wäre aber ein „Verlust“ für das ukrainische Militär, solche Waffensysteme nicht zur Verfügung zu haben. Und es gäbe mehr Opfer auf dem Schlachtfeld und anderswo.

Selenskyj betonte aber: „Wir setzen unsere Partner nicht unter Druck.“ Er sei nicht in die USA gekommen, um mehr zu verlangen, sondern um Danke zu sagen für alles, was die Vereinigten Staaten und andere bereits geleistet hätten. „Sie haben uns in dieser schwierigen Zeit so sehr unterstützt“, sagte er an die Adresse der Amerikaner.

Die Vereinigten Staaten gelten als wichtigster Verbündeter der Ukraine im Abwehrkampf gegen die russische Invasion. Seit Kriegsbeginn haben die USA nach eigenen Angaben allein militärische Hilfe im Umfang von mehr als 43 Milliarden US-Dollar für Kiew bereitgestellt - weit mehr als jedes andere Land. Nach seinem Besuch bei der UN-Vollversammlung in New York wollte Selenskyj zu Gesprächen nach Washington weiterreisen.

dpa

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