Die Welternährungsorganisation (WFP) warnt nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine vor verheerenden Konsequenzen für hungernde Menschen weltweit.
„Die massiven Überflutungen vernichten neu angepflanztes Getreide und damit auch die Hoffnung für 345 Millionen Hungerleidende auf der ganzen Welt, für die das Getreide aus der Ukraine lebensrettend ist“, sagte der Leiter des Berliner WFP-Büros Martin Frick der dpa.
Nach der Zerstörung des Staudamms im Süden der Ukraine rechnet das ukrainische Agrarministerium ersten Schätzungen zufolge mit der Überschwemmung von etwa 10.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche am nördlichen Ufer des Dnipro in der Region Cherson. Am südlichen Ufer, im russisch besetzten Gebiet werde ein Vielfaches dieser Fläche überflutet, teilte das Ministerium auf seiner Webseite mit.
Russland und die Ukraine geben sich gegenseitig die Schuld an der Zerstörung des Stausees, beide Seiten sprechen von einem „Terroranschlag“ und einer beispiellosen Katastrophe für die Umwelt.
Frick betonte: „Die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel befinden sich nach wie vor auf einem 10-Jahreshoch.“ Die Zerstörung des Staudamms dürfe keine weiteren Preisexplosionen nach sich ziehen. „Noch mehr Leid können wir uns nicht leisten.“
Staudamm und Kraftwerk in Ukraine zerstört
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist durch die Sprengung des wichtigen Kachowka-Staudamms gefährlich eskaliert - mit noch unabsehbaren humanitären, ökologischen und militärischen Folgen. Der Westen und die Ukraine machten Moskau für die Sprengung des Damms verantwortlich.
Präsident Wolodymyr Selenskyj verglich sie mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe. Durch die breite Bresche in der Mauer strömten Wassermassen aus dem Kachowka-Stausee ungehindert aus und setzten viele Ortschaften im flachen Süden der Ukraine unter Wasser. Informationen zu möglichen Verletzten gab es zunächst nicht.
„Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten“, sagte Selenskyj. Nach ukrainischen Angaben hatte nachts gegen 2.50 Uhr Ortszeit (1.50 Uhr MESZ) eine Explosion den 1955/56 gebauten Staudamm und ein angrenzendes Wasserkraftwerk zerstört.

Experten sehen die Verantwortung bei Russland. „Alles spricht dafür, dass die Russen den Damm gesprengt haben“, sagte der Militärexperte Carlo Masala dem Nachrichtenportal „t-online“. Moskau verfolge damit zwei Ziele: Chaos zu stiften und eine Gegenoffensive der Ukraine zu behindern.
Die russischen Besatzer hingegen machten ukrainischen Beschuss für die Schäden am Kachowka-Staudamm verantwortlich. „Das Wasser ist gestiegen“, sagte der von Moskau eingesetzte Bürgermeister in Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, staatlichen russischen Nachrichtenagenturen zufolge. Bislang gebe es aber keine Notwendigkeit, Zivilisten in Sicherheit zu bringen.

Staudamm in Ukraine zerstört: Viele Orte unter Wasser
Der Kachowka-Stausee und der Fluss Dnipro bildeten seit dem vergangenen Herbst die Frontlinie im Gebiet Cherson. Das Südufer wird von russischen Truppen beherrscht, das nördliche Ufer mit der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson nach der Rückeroberung wieder von den Ukrainern. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach von Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Entlang des Nordufers sahen die ukrainischen Behörden 16 000 Menschen in Gefahr. Militärgouverneur Olexander Prokudin berichtete von zunächst acht Ortschaften, die ganz oder teilweise unter Wasser stehen. Angaben über Tote oder Verletzte gab es zunächst nicht.
In der Stadt Cherson leben die Menschen seit Monaten unter russischem Artilleriefeuer. Luftaufnahmen zeigten, dass dort im Stadtteil Korabel von vielen eingeschossigen Häusern nur noch das Dach aus dem Wasser ragte. Zur Lage am flachen Südufer in russischer Hand gab es kaum Informationen. In Nowa Kachowka dicht an der Staumauer berichtete die russische Verwaltung von Überschwemmungen.
The Nova Kakhovka Dam has been destroyed in Southern Ukraine.
— Global: Military-Info (@Global_Mil_Info) June 6, 2023
(Coords: 46°46'42.5"N 33°22'11.8"E) pic.twitter.com/RE7MMeWHKq
Angesichts der angespannten Lage berief Präsident Selenskyj den Sicherheitsrat ein. „Russische Terroristen“, schrieb Selenskyj außerdem auf Telegram. „Die Zerstörung des Damms des Kachowka-Wasserkraftwerks beweist der ganzen Welt, dass sie aus jeder Ecke der Ukraine vertrieben werden müssen.“
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte die Zerstörung des wichtigen Staudamms. Der Vorfall gefährde Tausende Zivilisten und verursache schwere Umweltschäden, schrieb Stoltenberg auf Twitter. „Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert.“
The destruction of the Kakhovka dam today puts thousands of civilians at risk and causes severe environmental damage.
— Jens Stoltenberg (@jensstoltenberg) June 6, 2023
This is an outrageous act, which demonstrates once again the brutality of #Russia’s war in #Ukraine.
Bestürzt zeigte sich auch EU-Ratspräsident Charles Michel. „Schockiert über den beispiellosen Angriff auf den Nowa-Kachowka-Staudamm“, schrieb er auf Twitter.
Shocked by the unprecedented attack of the Nova Kakhovka dam.
— Charles Michel (@CharlesMichel) June 6, 2023
The destruction of civilian infrastructure clearly qualifies as a war crime - and we will hold Russia and its proxies accountable.
„Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt eindeutig als Kriegsverbrechen - und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Rechenschaft ziehen.“ Er werde das Thema beim nächsten EU-Gipfel Ende Juni aufbringen und mehr Hilfe für die überfluteten Gebiete vorschlagen.
Tschechien machte Russland für die Sprengung des Kachowka-Staudamms verantwortlich. Außenminister Jan Lipavsky warf der Führung in Moskau vor, die Grenzen ihrer Aggression immer weiter zu verschieben. „Der Angriff auf den Staudamm von Nowa Kachowka oberhalb von bewohnten Gebieten ist vergleichbar mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen Zivilisten“, schrieb er auf Twitter. Solch ein brutales Vorgehen müsse bestraft werden.
Gefahr für AKW Saporischschja?
Für das nordöstlich gelegene Atomkraftwerk Saporischschja droht nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) keine unmittelbare Gefahr. „IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau“, teilte die Behörde mit. Ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax ebenfalls, das AKW am Fluss Dnipro sei nicht betroffen. Die Atom-Anlage ist von russischen Truppen besetzt.
The IAEA is aware of reports of damage at #Ukraine’s Kakhovka dam; IAEA experts at #Zaporizhzhya Nuclear Power Plant are closely monitoring the situation; no immediate nuclear safety risk at plant.#ZNPP
— IAEA - International Atomic Energy Agency ⚛️ (@iaeaorg) June 6, 2023
Russland hatte das Nachbarland Ukraine vor mehr als 15 Monaten überfallen und im Zuge seines Angriffskriegs auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee dann die Befreiung eines Teils der Region - darunter auch die der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, darunter auch die Staudamm-Stadt Nowa Kachowka.
Immer wieder hatten die Ukrainer in den vergangenen Monaten vor einem möglichen Sabotageakt der Russen in Nowa Kachowka gewarnt. Für besondere Beunruhigung sorgte, als die Besatzer im vergangenen November die Evakuierung der Stadt ankündigten.
dpa