Schon seit Wochen kursieren in sozialen Netzwerken im Internet offensichtlich geheime Dokumente von US-Stellen zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine. In den USA berichten seit Tagen Medien über das sensible Material zu beiden Kriegsparteien, ohne die heiklen Dokumente selbst zu veröffentlichen. Unklar ist weiter, wer die schon vor Wochen bei prorussischen Kanälen verbreiteten Dokumente veröffentlicht hat. Das Investigativnetzwerk Bellingcat wies nach, dass die Dokumente teils im Nachhinein manipuliert wurden.
Die US-Regierung bemüht sich nach der Veröffentlichung der Geheimdienstdokumente zum Krieg in der Ukraine um Aufklärung. «Wir nehmen die Sache sehr, sehr ernst», sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, am Montag (Ortszeit) in Washington. Das Verteidigungsministerium leite eine behördenübergreifende Prüfung, «welche Auswirkungen dies auf die nationale Sicherheit haben könnte». Beim Justizministerium laufe eine strafrechtliche Untersuchung. Präsident Joe Biden werde fortlaufend informiert.
Was genau steht in den US-Geheimdokumenten?
Die veröffentlichten geheimen Dokumente beinhalten US-Medienberichten zufolge unter anderem Informationen zu Waffenlieferungen an die Ukraine, Angaben zum Munitionsverbrauch. Es gibt auch Landkarten, auf denen der Frontverlauf eingezeichnet ist, und Standorte russischer und ukrainischer Truppenverbände und deren Mannschaftsstärken. Einige der als „geheim“ gekennzeichneten Schriftstücke stammten vom Februar und März, wie das Nachrichtenportal „Politico“ berichtete.
Informationen gab es demnach auch zu Plänen der Nato und der USA, wie das ukrainische Militär auf eine bevorstehende Frühlingsoffensive vorbereitet und bewaffnet werden soll. Auch Details zu Anzahl und Art geplanter Waffenlieferungen sowie die voraussichtlichen Lieferdaten seien vermerkt.
Analysen und Informationen zu anderen Ländern, wie zum Beispiel China oder Israel, seien ebenfalls in den Dokumenten enthalten, schrieb die Zeitung „Washington Post“. Auch lasse sich teilweise erkennen, mit welchen Methoden die US-Geheimdienste die Informationen gesammelt hätten und wer die Quellen seien. Die Unterlagen stammten offensichtlich von verschiedenen US-Geheimdiensten und sogar vom Oberkommando der US-Streitkräfte, berichtete das „Wall Street Journal“. Es scheine sich um Briefing-Unterlagen zu handeln, hieß es.
Sind die Dokumente echt?
Der Experte Aric Toler vom Investigativ-Netzwerk Bellingcat hat herausgefunden, dass die Dokumente auf der bei Gamern beliebten Plattform für Videospiele Discord die Runde machten - und dann auch von russischen Nutzern etwa im Nachrichtennetzwerk verbreitet wurden. Demnach könnten sie echt sein, er wies aber auch nach, dass einige Dokumente im Nachhinein klar manipuliert wurden.
Der US-Sender CNN berichtete, Regierungsmitarbeiter hätten die Echtheit der Unterlagen bestätigt. Die US-Behörden scheinen die Sache sehr ernst zu nehmen. Sowohl das Pentagon als auch das Justizministerium untersuchten die Vorfälle, berichteten Medien übereinstimmend. US-Präsident Joe Biden sei „besorgt“ über die Menge der Dokumente, die an die Öffentlichkeit gelangt sei, bestätigte ein hochrangiger Regierungsmitarbeiter „Politico“.
Viele der Dokumente schienen nicht gefälscht zu sein und glichen im Format denjenigen des US-Auslandsgeheimdienstes CIA, bestätigten Regierungsmitarbeiter der „Washington Post“. Die Unterlagen des Oberkommandos der Streitkräfte sähen authentisch aus, berichtete die „New York Times“ unter Berufung auf Regierungsmitarbeiter.
Wer steckt hinter dem Leck?
Unklar ist, wer die Dokumente veröffentlicht hat. Der Maulwurf wird jetzt fieberhaft gesucht. Die Ermittlungen richteten sich zuallererst nach innen, berichtete CNN unter Berufung auf Regierungskreise. Im Internet sind Fotografien von Ausdrucken der geheimen Dokumente zu sehen. Hunderte, vielleicht Tausende Mitarbeiter und Außenstehende mit der entsprechenden Sicherheitsstufe hätten Zugang gehabt, sagte ein Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums der „Washington Post“. Solche Verstöße gehörten zu den schwersten Verbrechen, die es in Bezug auf die nationale Sicherheit der USA gebe, sagte eine ehemalige Anwältin der US-Luftwaffe der Zeitung.
Auswirkungen des Leaks auf den Krieg
Die USA bezweifeln laut einem Bericht der «Washington Post», dass die erwartete Frühjahrsoffensive der Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland große Erfolge bringen wird. Das ukrainische Militär könnte die ursprünglichen Pläne zur Rückeroberung von Russland besetzter Gebiete diesen Papieren zufolge «weit verfehlen», schreibt die Zeitung. Grund seien demnach die Schwierigkeiten Kiews bei der Aufstockung von Truppen, Munition und Ausrüstung.
Die Unterlagen offenbarten die Bedenken der US-Regierung zum Stand des Krieges, schreibt das Blatt. Zudem könnten sie jene Kritiker ermutigen, die von den USA und der Nato größere Anstrengungen für eine Verhandlungslösung forderten.
Die Einschätzung in den als streng geheim gekennzeichneten Papieren stamme von Anfang Februar und verweise auf «erhebliche Defizite bei der Truppenaufstockung und -Erhaltung». Zudem sei darin die Rede von der Wahrscheinlichkeit, dass die ukrainische Gegenoffensive nur «bescheidene Gebietsgewinne» erzielen könnte. Die Strategie Kiews konzentriere sich laut diesen Dokumenten darauf, umkämpfte Gebiete im Osten zurückzugewinnen und gleichzeitig nach Süden vorzustoßen, um die russische Landbrücke zur besetzten Halbinsel Krim zu kappen.
Kiew: Angaben zur Gegenoffensive sind weiter geheim
Während Medien darüber berichteten, dass die Umgebung von Präsident Wolodymyr Selenskyj verärgert auf das Datenleck reagiert habe, demonstrierte Kiew zumindest nach außen hin Gelassenheit: Der Sekretär des nationalen Sicherheitsrats, Olexij Danilow, dementierte, dass Daten über militärische Operationen, die Größe der Einheiten und die Stoßrichtung an die Öffentlichkeit gelangt seien. «Diese Informationen sind absolut geheim», sagte er in einem ARD-Interview. Der Beginn der ukrainischen Gegenoffensive werde erst im letzten Moment festgelegt.
Die ukrainische Führung zog zudem eine angebliche Abhöraktion der USA gegen Selenskyj in Zweifel. Beratungen des Staatschefs mit dem Militär liefen anders ab als in veröffentlichten Geheimdienstdokumenten dargestellt, sagte Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am Montag im ukrainischen Fernsehen. Die Beziehungen der Ukraine zu ihren westlichen Partnern seien durch die Veröffentlichungen nicht gefährdet. «Das sind normale Analysen», sagte er. Auch Pläne zu einer ukrainischen Gegenoffensive würden nicht torpediert, weil daran noch gearbeitet werde.
Einschätzung von US-Geheimdienstberatern
Die Widerstandskraft der russischen Verteidigungsanlagen und die Mängel bei Ausbildung und Munition auf ukrainischer Seite würden den Fortschritt der Offensive wahrscheinlich erschweren und die Verluste vergrößern, heißt es weiter.
Unabhängig von den durchgesickerten Papieren seien US-Geheimdienstberater zu der Einschätzung gelangt, dass der Ausgang der erwarteten ukrainischen Frühjahrsoffensive eher bescheiden sein werde, schreibt die «Washington Post» unter Berufung auf eigene Quellen weiter. Demnach werde nicht erwartet, dass das ukrainische Militär so viele Gebiete zurückgewinnen werden könne wie im vergangenen Herbst im Osten und Süden des Landes.
Zuvor hatte es Berichte über Geheimdokumente des US-Verteidigungsministeriums gegeben, wonach Selenskyj Ende Februar in einer Beratung mit der Armeeführung Drohnenangriffe auf Standorte der russischen Armee im russischen Staatsgebiet Rostow vorgeschlagen habe. Das könnte Washington darin bestärkt haben, Kiew keine weitreichenden Waffen zu liefern, hieß es. Podoljak widersprach dieser Darstellung: «Es macht keinen Sinn, einfach abstrakt zu sagen: «Lasst und das Gebiet Rostow bombardieren.» Bei solchen Beratungen würden vielmehr Prioritäten gesetzt und Strategien festgelegt.
dpa/bani
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