
© Jens Ostrowski
Enkelin entdeckt jetzt: „Mein Großvater fotografierte die Titanic“ – Sensation für Forscher
Titanic-Katastrophe
Vor 110 Jahren sank die Titanic auf den Grund des Nordatlantik. Einige der wichtigsten Fotos vor ihrem Untergang schoss der Rheinländer Erich Benninghoven. Historiker sind begeistert.
Die Titanic auf einem Foto, kurz nach ihrem Ablegen in Southampton: An Deck sind die Silhouetten von Menschen zu erkennen, die sich auf ihre Schiffsreise freuten, viele auf ein neues Leben in Amerika. Fünf Tage später waren die meisten tot – ertrunken, erfroren oder von Wrackteilen erschlagen. Nicht nur die Tragik zieht Hildburg Hübener in den Bann dieses eindrucksvollen Motivs. Fotografiert wurde es von ihrem Großvater Erich Benninghoven.

Die Titanic verlässt am 10. April 1912 den Hafen von Southampton. Am rechten BIldrand ist Erich Benninghoven bei der Arbeit zu sehen.
Zahlreiche berühmte Fotos stammen von ihm. Erich Benninghoven gehörte zu den ersten großen Fotojournalisten des Deutschen Reichs. Er begleitete Kaiser Wilhelm II auf Reisen, fotografierte Adelige und Industrielle auf der ganzen Welt, Palästina vom Ölberg aus. Während des Ersten Weltkriegs hielt er die Gräuel an Ost- und Westfront fest und fotografierte Anfang der 30er Jahre auch noch Adolf Hitler auf dessen Weg zur Macht. Vor allem Leopold Ullsteins „Berliner Illustrirte Zeitung“ druckte Benninghovens Fotos aus aller Welt.

Dieses Foto gelang Erich Benninghoven von der am Kai liegenden Bacon Grange aus. © Jens Ostrowski
Für Titanic-Historiker sind die Titanic-Fotos von Erich Benninghoven eine Sensation. Die Motive waren zwar bereits bekannt, nicht aber, wer sie fotografierte. Das haben die Autoren des Buchs „Die Titanic war ihr Schicksal – Die Geschichte der deutschen Passagiere und Besatzungsmitglieder“ bei ihren Recherchen herausgefunden. „Dass ausgerechnet ein deutscher Fotograf zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs einige der wichtigsten Fotos geschossen hat, ist eine kleine Sensation für die Titanic-Forschung“, sagt der schweizer Titanic-Historiker Günter Bäbler.
Titanic: Die meisten Fotos zeigen in Wahrheit das Schwesterschiff
Heute gibt es nur wenige Bilder der Titanic. Die meisten Fotos, die wir vom verunglückten Luxusliner kennen, zeigen in Wahrheit das baugleiche Schwesterschiff Olympic. Das liegt an der kurzen Lebensdauer der Titanic, aber auch am geringen Interesse vor ihrem Untergang. „Sie war lediglich die leicht verbesserte Version des erst gebauten Schiffs“, sagt Günter Bäbler.
Während der Bau der Olympic auf der Werft Harland & Wolff im nordirischen Belfast in allen Einzelheiten dokumentiert wurde, hielt der Werftfotograf bei der Titanic lediglich noch Besonderheiten fest, die sich von der Olympic unterschieden. Und während im Juni 1911 die Jungfernfahrt der Schwester ein großes Presse-Ereignis darstellte, war das Interesse vor der ersten Reise der Titanic von Southampton nach New York am 10. April 1912 gering. „Berühmt wurde sie erst durch ihren Untergang“, sagt Günter Bäbler.

Erich Benninghoven (ganz links am Tisch) etwa 1915 als Frontfotgraf im Ersten Weltkrieg. © Hildburg Hübener
Auch Hildburg Hübener kannte die Verbindung ihres Großvaters zu der Titanic bislang nicht. Die 78-jährige Enkelin erinnert sich an einen liebevollen Opa, der nie krank und immer gut gelaunt gewesen sei. „Wenn wir die Tür seines Biedermeier-Sekretärs knarzen hörten, da wussten wir: Opa trinkt wieder ein Schnäpschen“, sagt sie. Über seine Zeit als erfolgreicher Fotograf bis in die 30er Jahre hinein sprach er mit seiner Enkelin kaum. „Ich denke, das hatte mit dem Grauen zu tun, das er als Fotograf im Ersten Weltkrieg an der Front erlebte.“
Benninghoven war Rheinländer, geboren am 24. Februar 1873 in Gruiten nahe Mettmann als Sohn eines Mühlenbesitzers. Noch heute trägt ein Ort im Kreis Mettmann den Familiennamen. Statt in die Fußstapfen seiner alteingesessenen Bauernfamilie zu treten, ging Erich Benninghoven nach England, um das Fotografen-Handwerk zu lernen, und ließ sich dann in der Reichshauptstadt nieder. Das Berliner Adressbuch von 1911 weist ihn wohnhaft in Steglitz als Illustrator und Fotograf aus.

Erich Benninghoven fotografierte auch den Gymnastikraum auf dem Bootsdeck. Hier wärmten sich in der Untergangsnacht viele Passagiere auf und warteten auf einen Platz im Rettungsboot - häufig vergeblich. © Günter Bäbler
Über die Titanic hätte Benninghoven wohl einiges berichten können. Damals, als er und weitere Fotografen am Morgen des 10. April 1912 von einem Manager der White Star Line über die Decks der Titanic geführt wurden, dürfte das für ihn ein Routine-Termin gewesen sein. Erst wenige Monate zuvor war er von den Kriegsfronten aus Tripolis zurückgekehrt, wo er die Kämpfe zwischen den türkischen und italienischen Truppen festhielt. Jetzt wurde er durch saubere und luxuriöse Räume geführt. „Auf diesem Presse-Rundgang stellte die Reederei der Öffentlichkeit die Besonderheiten der Titanic vor“, weiß Bäbler.
Suiten auf der Titanic kosteten ein Vermögen
Vorgeführt wurden etwa die beiden Suiten mit eigener Privatpromenade, die teuersten Kabinen. In der Sommersaison verlangte die Reederei 870 Pfund pro Überfahrt – damals ein Vermögen. Die Journalisten sahen auch Gesellschaftsräume wie das Café Parisien: Es grenzte steuerbord direkt an das À-la-carte-Restaurant. Nach den ersten Olympic-Reisen hatte die Reederei die Baupläne der Titanic geändert und ein weiteres überdachtes Promenadendeck für überflüssig erachtet. „Stattdessen erhielt das Schiff einige zusätzliche Kabinen und eben das mit Pflanzen berankte Café, inspiriert von einem Pariser Original“, so Historiker Bäbler.

Eine der Suiten auf der Titanic, die Erich Benninghoven am 10. April 1912 fotografierte. © Ostrowski, Jens
Die Tour führte die Besucher auf dem Bootsdeck ebenso in den Gymnastikraum, ausgestattet mit den modernsten Sportgeräten der Firma Rossel, Schwarz & Co. aus Wiesbaden – darunter Punching Ball, Rudergerät und ein Reitapparat, auf dem Benninghoven eine unbekannte junge Frau in Szene setzte. Niemand weiß, ob sie den Untergang überlebte.
Das letzte Foto vom Titanic-Kapitän
Der Berliner fotografierte auch Titanic-Kapitän Edward John Smith auf dem Bootsdeck. Dieses wohl letzte Porträt zeigt ihn in schwarzer Uniform vor den Fenstern der Offizierskabinen nahe der Kommandobrücke. Smith stand kurz vor dem Ruhestand und gehörte zu den erfahrensten Kapitänen seiner Reederei, die ihm seit Jahren die Flaggschiffe anvertraute.
Mit einem Schwung an Motiven verließ Erich Benninghoven das Schiff, um mit seiner Kamera in der Hafeneinfahrt darauf zu warten, dass sich die Titanic mittags in Bewegung setzte. Dazu postierte sich der Fotograf an Deck der am Kai liegenden „Beacon Grange“.

Die Rückseite einer Frontfotografie, die vom kaiserlichen Generalstab zur Veröffentlichung freigegeben worden ist.
Hier entstand ein Bild, das Günter Bäbler und Hildburg Hübener gleichermaßen elektrisiert. Im Vordergrund ist Erich Benninghoven bei der Arbeit während des Auslaufens der Titanic aus Southampton zu sehen – zufällig oder auch ganz bewusst aufgenommen von einem zweiten Fotografen. „Da wir die an diesem Tag entstandenen Fotos den Agenturen zuordnen können“, ist Bäbler nahezu sicher: „Der Fotograf mit dem Bowlerhut muss Erich Benninghoven sein.“
Fünf Tage später sank der Ozeanriese nach der Kollision mit einem Eisberg auf den Grund des Nordatlantik. 1496 Menschen starben in dieser Nacht auf den 15. April 1912. Und die Fotos von Erich Benninghoven zeigten fortan nicht mehr nur irgendein großes Passagierschiff beim Auslaufen aus Southampton, sondern die letzten Tage der berühmten Titanic.

Das Schwimmbad der Titanic war eine Besonderheit. Es wurde mit Meerwasser gefüllt. © Günter Bäbler
Seinen eigenen Lebensabend verbrachte Erich Benninghoven bei Familienangehörigen im südhessischen Bad Schwalbach. Er starb dort im Mai 1965 im Alter von 92 Jahren. Im Nachlass des Fotografens befindet sich auch ein undatiertes Foto, das Adolf Hitler dabei zeigt, wie er von Kindern Blumen entgegennimmt. Somit setzte er den Mann in Szene, ohne den Benninghovens Fotoschatz heute wohl noch existieren würde. Denn der Großteil seiner Arbeit verbrannte bei einem Bombenangriff auf das Ullstein-Archiv gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Berlin. Die Titanic-Motive aber haben alle Zeiten überdauert, weil sie nach dem Untergang millionenfach gedruckt wurden.
„Aber wer weiß, welche Geheimnisse das Berliner Archiv über meinen Großvater noch preisgegeben hätte“, sagt Hildburg Hübener und schaut auf das Titanic-Foto vom 10. April 1912.
Ich bin Journalist geworden, weil mich die tägliche Herausforderung reizt. Während die Waschmittel-Branche von einem guten Produkt über Jahre profitieren kann, müssen Journalisten ihre Medien jeden Tag neu erfinden.
