Herr Neumann, der Verfassungsschutz und die Bundesinnenministerin warnen vor neuem islamistischem Terror. Teilen Sie das?
Ich habe schon am 26. Oktober gesagt, dass die Gefahr zunimmt, insbesondere für jüdische und israelische Einrichtungen. Damals war die Innenministerin noch anderer Meinung. Das fand ich absurd, weil sich die Lage mit dem 7. Oktober dramatisch verändert hat. Die bürokratischen Mühlen der Sicherheitsbehörden mahlen aber langsam. Deshalb bin ich froh, dass sie nach acht Wochen jetzt auch zu dieser Einschätzung gekommen sind.
Woran machen Sie die Gefahr fest?
Wir sehen wieder mehr Aktivitäten von Gefährdern, die bis zum 7. Oktober passiv waren. Wir sehen auch im Internet sehr viel Aktivität, besonders in den sozialen Medien. Da haben sich offenkundig auch einige derjenigen, die jetzt festgenommen wurden, radikalisiert. Im Übrigen ist der Nahostkonflikt zwar geografisch gesehen weit weg, aber aus islamistischer Sicht zentral. Er ist gemessen am Konflikt in Syrien schließlich viel klarer und eignet sich daher viel besser zur Mobilisierung.
Was unterscheidet die neue islamistische Welle von der ersten Welle nach dem 11. September 2001 und der zweiten Welle im Zuge des Syrien-Krieges?
Ein Unterschied ist der, dass soziale Medien zwar vor zehn Jahren ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Aber jetzt ist das quantitativ nochmal krasser. Wir haben viel mehr einschlägige Videos, die über soziale Medien verbreitet werden, verbunden mit viel Desinformation. Und das hat eine erhebliche Wirkung. Dabei ist Tiktok als Plattform noch relativ neu. Jetzt sprechen die Aktivitäten auf Tiktok 15- oder 16-Jährige an. Sie radikalisieren sich dort.
Gibt es noch einen Unterschied?
Ein zweiter Unterschied zur zweiten Welle, wie Sie sagen, ist, dass damals alle nach Syrien und dort dem IS beitreten wollten. Diese Option gibt es jetzt nicht. Die Hamas rekrutiert keine Auslandskämpfer, und es ist nicht so einfach, in den Gazastreifen zu kommen. Daher liegt das Augenmerk jetzt von Anfang an auf dem, was Islamisten hier tun können. 2012 sind die ersten Islamisten nach Syrien gegangen, erst 2014 gab es hier den ersten Anschlag. Das wird diesmal schneller gehen.
Nochmal zu den sozialen Medien. Das Problem ist ja auch, dass immer mehr Menschen sie als einzige Quelle nutzen.
Ja, und das trifft nicht nur auf Radikalisierte zu. Ich kenne viele Leute, selbst im eigenen Bekanntenkreis, die sich noch nie mit dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern auseinandergesetzt haben und sich heute über soziale Medien eine Meinung bilden. Dabei muss man das Wort „bilden“ allerdings in Anführungszeichen setzen. So habe ich zuletzt Nachrichten mit der Frage bekommen: „Warum tötet Israel Babys?“ – verlinkt mit einem Videoclip irgendwo aus dem Internet. Wenn das schon bei „Normalos“ so läuft, kann man sich vorstellen, welchen Eindruck das auf 16-Jährige macht. Die sozialen Medien sind die Bühne, auf der Radikalisierung, Desinformation und Polarisierung stattfinden.
Müsste der Staat dagegen nicht viel härter einschreiten?
Ja. Es wird auch versucht, etwa auf EU-Ebene mit dem Digital Services Act. Aber das ist sehr aufwendig. Und man weiß noch gar nicht so richtig, wie man die Mittel, die der Digital Services Act bietet, einsetzen kann. Bei Twitter ist es im Übrigen so, dass sich Elon Musk dem einfach widersetzt. Das zweite Problem ist Tiktok, wo noch keine eingespielten Prozesse für Gegenmaßnahmen existieren. Das dritte Problem sind Plattformen wie Telegram. Frau Faeser hat vor zwei Jahren angekündigt, sie werde sich Telegram mal vorknöpfen. Aber anschließend hat man nichts mehr gehört. Tiktok ist die Einstiegsdroge. Für viele geht es dann auf Telegram weiter, weil dort sehr wenig zensiert wird und die Telegram-Macher im Prinzip nicht erreichbar sind.
Zurück zur Terrorgefahr. Mit welcher Art von Anschlägen rechnen Sie?
Ich rechne mit Einzeltätern oder kleinen Gruppen, die sich im Internet finden und zu relativ einfachen Aktionen verabreden, wie Angriffen mit Lastwagen und Pkw auf größere Menschenmengen oder Attacken mit Messern. Einen komplexen Anschlag, wie er etwa 2015 in Paris stattgefunden hat, kann ich mir aktuell nicht vorstellen. Dafür existieren die Netzwerke nicht. Da haben die Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren gut gearbeitet. Sie haben die Netzwerke zerstört. An deren Stelle ist der Mythos des Einzeltäters getreten.
Anders als die Taliban oder der „Islamische Staat“ haben zwar nicht die Hamas, aber die Palästinenser insgesamt ein legitimes Anliegen. Sie wollen einen eigenen Staat. Wäre es nicht angebracht, darauf hinzuarbeiten?
Ja, natürlich. Es wäre ganz unabhängig von der Terrorgefahr gut und richtig, wenn man diesen Konflikt lösen könnte. Man könnte damit viele Leute auf die Seite der Vernunft ziehen. Umgekehrt legitimiert das Fehlen einer Zwei-Staaten-Lösung keine Anschläge auf Weihnachtsmärkte oder auf Juden. Im Übrigen darf man sich keine Illusionen machen: Die Zwei-Staaten-Lösung, die uns vorschwebt, ist für Dschihadisten nicht genug. Sie wollen eine Ein-Staaten-Lösung und Israel vernichten.
RND