Tarek kam aus Syrien, jetzt hilft er Geflüchteten aus der Ukraine

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Tarek kam aus Syrien, jetzt hilft er Geflüchteten aus der Ukraine

rnKrieg in der Ukraine

2015 floh Tarek aus Syrien nach Dortmund. Heute hilft er Ukrainern in derselben Einrichtung, die ihn damals aufgefangen hat. Es ist nicht nur die Flucht, die ihn und die Betroffenen verbindet.

von Matthias Schwarzer

Dortmund/Berlin

, 01.04.2022, 05:45 Uhr / Lesedauer: 4 min

Mit dem Kriegsbeginn in der Ukraine kamen auch die Erinnerungen zurück. Das Donnern der Bomben, die Schreie, die Bilder von Verletzten und Toten, das Blut und das Elend. Tarek Alkouatly hat all das miterlebt, als Heranwachsender, vier Jahre lang im umkämpften syrischen Ost-Ghuta, seiner Heimat – bis er schließlich floh. Heute sieht er die nahezu gleichen Horrorbilder im Fernsehen. Nur die Angriffsziele sind andere. Mariupol, Charkiw, Odessa.

Abgehärtet sei er heute, sagt Tarek Alkouatly. Vier Jahre Krieg, vier Jahre Bomben, vier Jahre lang Leid – das mache etwas mit einem. Die aktuellen Bilder allerdings stimmten ihn dennoch emotional. „Manchmal kommen mir die Tränen“, sagt der 23-Jährige. Besonders schlimm sei es, wenn er leidende Kinder sehe. Da sei für ihn eine „rote Linie überschritten“. Und in die Trauer mische sich Wut.

Riesige Hilfsbereitschaft in Dortmund

Tarek Alkouatly lebt heute in Dortmund. 2015 kam er als sogenannter unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus der syrischen Kriegshölle über die Balkanroute ins Ruhrgebiet. Dortmund war damals das Drehkreuz für Geflüchtete in ganz Nordrhein-Westfalen. Pro Nacht kamen mehrere Züge aus dem Süden mit zeitweise mehreren Tausend Menschen – in einem davon saß der damals 16 Jahre alte Tarek.

Seine erste Anlaufstelle: das Fritz-Henßler-Haus an der Geschwister-Scholl-Straße, auch bekannt als Haus der Jugend. Dieses wurde im Herbst 2015 kurzerhand zur Notunterkunft für minderjährige Geflüchtete umfunktioniert. Auch Tarek blieb eine Nacht, ehe er Unterschlupf in einer Wohngruppe fand.

„Die Hilfsbereitschaft war riesig“, erinnert er sich heute. Am Dortmunder Hauptbahnhof seien er und die viele anderen Syrer mit offenen Armen und teilweise Applaus empfangen worden. Ehrenamtliche Flüchtlingshelferinnen und -helfer hatten sich spontan über die sozialen Netzwerke organisiert und unter dem Motto „Train of Hope“ Soforthilfe angeboten.

Ukrainische Flüchtlinge im Ruhrgebiet: Vieles ist wie im Herbst 2015

Die oftmals traumatisierten Menschen wurden mit Lebensmitteln und medizinisch versorgt, in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Dortmund stapelten sich zeitweise die Kleidungsspenden. Später kümmerten sich die Ehrenamtlichen auch um die Bürokratie. Nur so gelang es Tarek Alkouatly, später auch seine Familie aus Ost-Ghuta nach Deutschland nachzuholen.

Seither sind sieben Jahre vergangen – und doch ist vieles wieder wie in diesem Frühherbst 2015. Das Fritz-Henßler-Haus ist seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine erneut zur Notunterkunft für Geflüchtete geworden. Und auch Tarek Alkouatly ist wieder öfter hier. Diesmal jedoch nicht als Hilfsbedürftiger, sondern als Helfer.

„Es ist meine Pflicht, etwas zurückzugeben“, sagt der heute 23-Jährige im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Seit drei Jahren engagiert sich Alkouatly bei Train of Hope Dortmund – der Organisation, die einst auch ihm selbst half und heute ein rund 200-köpfiger Verein ist.

In der Geschäftsstelle in der multikulturellen Dortmunder Nordstadt bietet Alkouatly zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen heute Beratungsgespräche an, hilft beim Ausfüllen von Dokumenten und Behördengängen oder bei der Wohnungssuche. Einige Zeit war der 23-Jährige sogar stellvertretender Vorsitzer von Train of Hope – inzwischen holt Alkouatly neben der Arbeit sein Abitur nach und muss deshalb etwas kürzer treten.

Der Krieg in der Ukraine stellt die Helferinnen und Helfer in Dortmund nun vor ähnliche Herausforderungen wie 2015. Und bei Tarek Alkouatly reißt er alte Wunden auf.

„Ich habe mich erst vor wenigen Tagen mit einer geflüchteten ukrainischen Familie über die Situation unterhalten“, erzählt er. „Als sie von den Bomben und den Zerstörungen berichtete, musste ich fast weinen. Es ist die gleiche Situation wie damals in Ost-Ghuta. Und es sind die gleichen Akteure, die uns bekämpfen.“

Als die Putin-Truppen in Ghuta wüteten

Russische Truppen hatten auch vor einigen Jahren in Syrien gewütet. Kampfjets bombardierten Städte und Dörfer, die unter Kontrolle der Aufständischen waren – und das ohne Rücksicht auf Märkte, Menschenmassen, Moscheen, Schulen oder Kinder.

Alkouatlys Heimat Ost-Ghuta trafen die Attacken besonders heftig. Die einstige Rebellenhochburg erlebte 2018 als eingekesselte Region die blutigsten Angriffswellen des Krieges in Syrien überhaupt, schon 2013 kam es hier zu einer Reihe von Giftgasangriffen. Die USA und Großbritannien machten dafür das Assad-Regime verantwortlich. Russland und Syrien wiesen das zurück.

„Ich habe vier Jahre lang in Syrien Bomben gehört und Blut gesehen“, sagt der 23-Jährige. „Und das Schlimmste: Mit der Zeit gewöhnt man sich daran.“ Freunde und Bekannte habe der Krieg derweil völlig traumatisiert zurückgelassen, erzählt er. Sein heutiger Nachbar in Dortmund habe seinen Sohn im Krieg verloren. Ihn habe er noch nie lachen gesehen.

Tarek Alkouatly ist nicht der einzige Helfer des Vereins, der die Kriegssituation in der Ukraine mitfühlen kann. Auch Nino Mamaladze kann das – wenn auch aus etwas anderen Gründen. Mamaladze macht ein freiwilliges soziales Jahr beim Flüchtlingshilfeverein – und stammt aus Georgien. Ihre Heimat hat seit spätestens 2008 ebenfalls eine tragische Geschichte mit Russland.

Seinerzeit mündete der jahrelang schwelende Konflikt um die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien in kriegerischen Auseinandersetzungen. Russland griff Georgien sowohl aus der Luft als auch über Land und See an. „Meine Mutter stammt aus Abchasien“, erzählt Mamaladze. Noch heute erzähle sie regelmäßig von dieser Zeit – und wie schlimm es sei, aus der eigenen Heimat zu fliehen.

Mamaladze hilft heute in der Erstaufnahmeeinrichtung im Fritz-Henßler-Haus. Sie verstehe die Sprache der ankommenden Ukrainerinnen und Ukrainer – und ihre Sorgen. „Ich spreche mit den Menschen oft über meine eigene Geschichte“, sagt Mamaladze. Diese seien dann regelrecht „glücklich“, wenn sie hörten, dass ihre Helferin aus Georgien komme. „Sie kennen unsere Geschichte.“

„Wir haben mit Putin einen gemeinsamen Feind“

Dieses gemeinsame Leid, die Wut auf den gleichen skrupellosen Mann ist es, was viele Helferinnen und Helfer in Dortmund gerade zu Höchstleistungen antreibt. Ein großer Teil der Mitglieder des Vereins hat selbst Fluchterfahrungen gemacht.

Über Whatsapp-Gruppen organisieren sich die Helfenden und Freiwillige aus der Dortmunder Bevölkerung. Hier werden Kleidungsspenden organisiert und im Haus der Jugend dann an den Mann oder die Frau gebracht. Im nächsten Schritt werden die Geflüchteten dann an Gastfamilien vermittelt. Zahlreiche Dortmunderinnen und Dortmunder hätten sich dafür bereit erklärt. „Die Hilfsbereitschaft in der Stadt ist enorm“, sagt Nino Mamaladze.

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Tarkan Alkouatly ist neben Job und Abitur derzeit fast jede freie Minute im Flüchtlingshilfeverein aktiv. Die Verpflichtung, etwas zurückzugeben, sei das eine. Das andere sei das Mitgefühl mit den vielen Ukrainerinnen und Ukrainern. Ghuta, Aleppo. Mariupol, Charkiw, Odessa. Und natürlich Georgien. Am Ende laufen irgendwie alle Fäden zusammen. „Wir haben mit Putin einen gemeinsamen Feind“, sagt Alkouatly.