Der Streit um die freie Meinung Wer bestimmt, was wir sagen? Warum schweigen so viele?

Der Streit um die freie Meinung: Wer bestimmt, was wir sagen? Warum schweigen so viele?
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Sind wir auf dem Weg in eine Gesellschaft der schweigenden Mehrheit? In der sich die meisten nicht mehr trauen, zu sagen, was sie denken? Die Ergebnisse der Umfrage unter unseren Abonnenten, mit der wir unsere große Serie „Alles sagen! – Der Streit um die freie Meinung“ vorbereitet haben, legen das nahe.

„Fühlen Sie sich in Deutschland in Ihrer Meinungsfreiheit durch gesellschaftlichen Druck eingeschränkt?“ begann die nicht-repräsentative Umfrage, an der sich 3.386 Menschen beteiligt haben. Die Antworten „Ja, ständig“ und „Ja, gelegentlich“ haben zusammen 60,16 Prozent angekreuzt.

„Befragungen des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigen ebenfalls, dass der Anteil derjenigen, die sagen, dass man seine Meinung zu politischen Themen in Deutschland frei äußern kann, von den 70er Jahren bis 2021 gesunken ist“, sagt Journalistik-Professorin Annika Sehl. Das gelte für Menschen aus allen politischen Richtungen, wobei sich Anhänger der AfD besonders unfrei fühlten. Aber selbst jeder dritte Grünen-Wähler fühle sich demnach eingeschränkt.

Wie kann das sein in einem Land, in dem das Grundgesetz die Meinungsfreiheit garantiert und ihr einen so hohen Rang wie in kaum einem anderen Land der Erde einräumt? Wir haben Expertinnen und Experten gefragt: den Psychologen Steve Ayan, Autor des Buches „Was man noch sagen darf“; den Medienwissenschaftler Professor Werner J. Patzelt, den Politikwissenschaftler Prof. Dr. Norbert Bolz, die Journalistik-Professorin Annika Sehl von der Katholischen Universität Eichstätt. Bolz und Patzelt teilen das gleiche Schicksal: Die einen loben sie für ihre klaren Äußerungen in höchsten Tönen, andere kritisieren sie heftig.

„Natürlich leben wir nicht in einer Diktatur“

Selbstverständlich könne man in Deutschland noch seine Meinung sagen, sagt Patzelt, „aber man sollte darauf gefasst sein, dass es teuer werden kann – in Form von sozialen Ausschlusskosten.“ Bolz sieht das genauso: „Natürlich leben wir nicht in einer Diktatur, die uns verbietet zu sagen, was wir denken. Aber wir leben doch in einer Welt, in der es oft einen hohen Preis kostet, zu sagen, was man denkt.“

Was sind das für Themen, in denen sich Menschen eingeschränkt fühlen? „Darf ein Westeuropäer in seinem Bekanntenkreis zum Beispiel sagen, dass er sich abends am Bahnhof inmitten vieler Migranten unwohl fühlt – oder ist das bereits Rassismus?“, fragt ein Teilnehmer unserer Umfrage. Patzelt sieht darin Shitstorm-Potenzial.

„Inzwischen ist es Mode geworden, andere Meinungen als die eigene wie zum Selbstschutz in schlimmstmöglicher Weise auszudeuten, auf diese Weise dem anderen ein ihn schwächendes, schlechtes Gefühl zu bescheren, und weiterhin Andersdenkende möglichst in eine Extremistenecke zu drängen. Das beobachten wir nicht nur bei Themen wie Zuwanderung, Klima, Gendern.“

Prof. Dr. Werner J. Patzelt.
Prof. Dr. Werner J. Patzelt. © picture alliance / Eventpress

Eben das erlebte der Bielefelder Gastwirt Christian Schulz, als er eine Besucherin bat, seinen Biergarten zu verlassen. Die Frau trug Niqab, bei dem nur die Augen sichtbar sind. Andere Gäste, aber auch Schulz, fühlten sich in Gegenwart der Frau unwohl. Als die Dame – laut Wirt eine Deutsche – sich weigerte, die Kopfbedeckung abzulegen, machte er von seinem Hausrecht Gebrauch.

Kurz darauf tauchten auf der Facebook-Seite des Restaurants Hunderte Kommentare auf, in denen der Wirt als „rassistisch“, „ausländerfeindlich“, und „menschenverachtend“ beschimpft wurde – ohne Details zu kennen.

„Ein typisches Beispiel für die Shitstorm-Denke“, sagt Psychologe Ayan: „Ich habe keine Ahnung, was da eigentlich passiert ist, aber kotze einfach meine Meinung raus. Eine Mischung aus Pöbellust, Narzissmus, Ahnungslosigkeit und Anonymität ist dafür verantwortlich.“

Shitstorm nach der Anzeige des Landratsamtes

Es gibt weitere Beispiele: Auf der Suche nach einer Assistenz für den Landrat in Miesbach zeigte ihn die Anzeige am Schreibtisch, umgeben von vier lächelnden Mitarbeiterinnen, die ihm Telefon und Akten reichten. Das Foto sollte laut Landratsamt „lediglich die gute Stimmung im Büro darstellen“. Hunderte warfen den Verantwortlichen in einem Shitstorm Sexismus und Frauenfeindlichkeit vor.

Solche Attacken, sagt Patzelt, „stellen verlässlich sicher, dass viele Leute aus Angst, etwas dann Abgestraftes zu sagen, sich möglichst gemäß den bekannten Geboten und Tabus politischer Korrektheit verhalten – oder lieber ganz schweigen. Insgesamt vollzieht sich ein Ringen um das gerade noch schadlos Sagbare.“

Aber auch, wer linke Ansichten vertritt, wird in den Sozialen Medien schnell Opfer von Beleidigungen und sogar Todesdrohungen. Grünen-Politikerinnen wie Annalena Baerbock wehren sich regelmäßig juristisch dagegen. 2022 war sie von einem Mann bedroht worden mit den Worten „Jemand sollte dich zerstückeln“.

Prof. Dr. Annika Sehl.
Prof. Dr. Annika Sehl. © dpa

Rund 28,8 Prozent der Teilnehmer unserer Umfrage sagen, dass sie sich im Alltag mehr oder weniger stark in ihrer Meinungsfreiheit durch Druck von Kolleginnen und Kollegen, von Vorgesetzten (31,4 Prozent) und selbst von Freundinnen und Freunden (23,6 Prozent) eingeschränkt fühlen. Das alles ist nicht neu, sagt Ayan. „Neu ist eine gewisse Unerbittlichkeit, die daher rührt, dass man eine Redeweise mit dem moralischen Status einer Person identifiziert.“

Annika Sehl verweist auf Studien, wonach das Verständnis von Meinungsfreiheit bei vielen eher mit ihrer eigenen Wahrnehmung des Meinungsklimas und ihrer individuellen Einschätzung ihrer Redefreiheit zusammen hänge und nicht mit geltenden Gesetzen. „Das führt teilweise dazu, dass sie sich selbst zensieren.“ Ayan nennt das „Anstiftung zur Bigotterie und Heuchelei.“

Die Bedeutung des Konformismus

Patzelt macht eine kleine Gruppe für diese Entwicklung verantwortlich: „Die Hebelwirkung solchen Verhaltens ist in drei Bereichen besonders groß. Erstens unter Akademikern an Hochschulen; hier sind viele in prekären Verhältnissen oder wollen Karriere machen, dürfen also unter keinen Umständen anecken. Und die anderen Bereiche sind die Politik und der Journalismus.“

Wenn es nur eine kleine Gruppe ist, warum entfaltet sie dann so großen Einfluss? Norbert Bolz spricht von „Konformismus“: „Dieser Konformismus ist der wesentliche Grund, dass es immer mehr Leute gibt, die signalisieren wollen: Ich gehöre nicht zu den Bösen, ich gehöre zu den Guten. Und wer möchte schon das Label des Unmenschen, des Ewig-Gestrigen bekommen? Deshalb flüchten sich immer mehr Leute in diese politische Korrektheit hinein, um auf Nummer sicher zu gehen.“

Psychologe Ayan stimmt zu: „Umso mehr sollte man sich fragen, ob es nicht auch manchmal richtig ist, nonkonformistisch die eigene Meinung hochzuhalten. Wir müssen nicht Everybody’s Darling sein. Wir brauchen mehr Mut zur Zumutung.“

Patzelt sagt, die Medien trügen die größte Mitverantwortung. Journalisten dürften „keine Propagandisten oder Aktivisten“ sein, sondern schlicht sagen, was ist. Sie müssten mit der eigenen Macht kritischer umgehen.

Bolz hat den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) im Visier: „Der Eindruck, den sehr viele Menschen haben, ist, dass vor allem die Medien des ÖRR sich als Oberlehrer des Systems empfinden. Dass sie gar nicht berichten wollen. Dass sie gar nicht informieren wollen, sondern dass sie belehren wollen und uns gängeln wollen.“

Als Beispiel nennt Bolz die Gendersprache. Bis Dezember 2022 unterschrieben über 350 Sprach- und Literaturwissenschaftler einen Aufruf gegen die Verwendung der Gendersprache im ÖRR. Als die Initiatoren ARD und ZDF um eine inhaltliche Stellungnahme baten, gab es keine Reaktion.

Der große Unterschied in der Sprachentwicklung

Eine Sprach-Entwicklung und Sprachverbote habe es immer gegeben, sagt Bolz, aber die Situation heute unterscheide sich davon fundamental: „Es macht einen riesengroßen Unterschied, ob man etwa aus der historischen Erfahrung der Nazi-Zeit gewisse Worte nicht mehr benutzt, gewisse Themen und Meinungen nicht mehr unterstützen kann. Es ist etwas ganz anderes, wenn heute vor allem an Universitäten, in den Redaktionen der sogenannten Leitmedien, und natürlich auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem und in vielen politischen Parteien von oben herab versucht wird, das Sagbare vom Unsagbaren zu unterscheiden.“ Bolz ist sicher: „Es gibt heute eine universitär-politisch-mediale Elite, die sich anmaßt, zu sagen: Das geht und das geht nicht. Das ist korrekt, das ist inkorrekt.“

Steve Ayan.
Steve Ayan. © dpa

Ayan widerspricht: „Ich glaube nicht, dass es DIE Universitäten oder DIE Medien gibt, so als hätten die sich alle irgendwie verschworen. Es gibt sicherlich an Unis und in bestimmten Medien überproportional viele Moralwächter, aber man kann denen auch widersprechen. Zu sagen, es gebe eine ‚Meinungsdiktatur‘, gegen die man nichts ausrichten könne, ist auf eine Art feige, weil es so tut, als sei es unmöglich, mutig, aber gelassen zu widersprechen und Argumente vorzubringen. Das kann man wohl.“

Für die Medienkritik sieht Annika Sehl noch einen Grund: Redaktionen stünden bei Berichterstattungen über polarisierende Themen besonders in den Sozialen Medien vor der Herausforderung, restriktiv zu moderieren. Dadurch entstehe der Vorwurf, dass Medien unliebsame Meinungen unterdrücken. „Dabei bleibt in vielen justiziablen Fällen gar nichts anderes übrig, als bestimmte Kommentare zu löschen, Nutzerinnen und Nutzer zu blockieren oder die Kommentarfunktion vollständig abzustellen“, sagt Sehl.

„Ein schlechtes historisches Gewissen“

Unabhängig von solchen rechtlichen Überlegungen verweist Bolz auf eine andere Beobachtung: den Ersatz von Argumenten durch Gefühl: „Das große Problem, das die westliche Kultur mittlerweile hat, ist, dass wir aufgrund unseres schlechten historischen Gewissens – bei uns sind es die Nazis, bei Amerikanern der Rassismus, bei Engländern und Franzosen der Kolonialismus, wehrlos werden, wenn gegen Argumente Gefühle mobilisiert werden. Wenn jemand sagt ,Ich habe Angst‘ oder ,Ich fühle mich verletzt von dem, was du sagst‘, dann kann man nicht dagegen argumentieren. Man kann nicht sagen ,Du hast gar keine Angst‘ oder ,du bist gar nicht verletzt‘.“ Das führe zu einer Kultur der Hypersensibilisierung, der Überempfindlichkeit.

„Sicher, Hyper-Moralisierung und Hyper-Emotionalisierung gehen hier oft Hand in Hand. Doch nur weil manche so ein Spiel mit ihrer eigenen Verletzlichkeit treiben, muss man umgekehrt kein Prinzip daraus machen, dagegen zu verstoßen“, sagt Ayan.

Prof. Dr. Norbert Bolz.
Prof. Dr. Norbert Bolz. © dpa

Was also ist zu tun? Etwa im Umgang mit der AfD? Um die zu bekämpfen, sagt Bolz, müsse man ihre Themen aufgreifen, sie mit sachlicher Information konfrontieren. Egal ob Political Correctness, Migration Gendern, Klimakrise – in all diesen Punkten treffe, sagt Bolz, die AfD ja Empfindlichkeiten des Großteils der Bevölkerung. Allerdings hätten alle anderen Parteien und viele Medien die „Riesendummheit“ begangen, daraus den Schluss zu ziehen: ,Darüber reden wir nicht.‘ Gerade dadurch wirken diese Thesen stärker“, sagt Bolz.

Ayan: „Ich fürchte auch, totschweigen ist keine Lösung. Man muss geduldig und nimmermüde erklären, warum das, was die AfD sagt, zu großen Teilen unsinnig und politischer Wahnwitz ist. Und warum es denen, die sie wählen, als erstes schaden würde, wenn Populisten in verantwortliche Positionen kämen.“

Wenn Totschweigen keine Lösung ist, gibt es nur ein einziges Rezept, um verängstigte Sprachlosigkeit zu überwinden: Reden, offen, sachlich, ohne persönliche Angriffe.

Genau das wollen wir in der Serie „Alles sagen“ tun. Dazu greifen wir höchst kontroverse Themen auf: Political Correctness, Klima, Gendern, Zuwanderung, Nationalismus, Sexismus. Jedem Thema räumen wir jeweils vier Wochen lang breiten Raum ein. Wir starten in der nächsten Woche mit dem Thema Ausländer und Kriminalität.

Alle Artikel unserer Serie finden Sie ab sofort auf unserer Übersichtsseite.

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