Ermittler sieht in Schummelei „gelebte Übung“ im Kreistag Anwalt beglaubigte Papiere von Küpper

Abrechnungsaffäre: Staatsanwalt spricht von „gelebter Übung“ im Kreistag
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Einen „ehrlich gemeinten Dank“ sprach Richter Jörg Hüchtmann an Staatsanwalt Tobias Wendt aus. Der Vertreter der Anklagebehörde hatte da gerade einen mehr als 30 Minuten dauernden Vortrag beendet. Darin trug er alle Marion Küpper vorgeworfenen 59 Betrugsfälle Detail um Detail vor – so wie es im Strafprozess vorgeschrieben ist.

Wendt griff danach erst einmal zur Flasche Mineralwasser. Die beiden Schöffen Dietmar Luft und Jürgen Richters hatten wie Hüchtmann aufmerksam zugehört. Im voll besetzten Saal 107 des Amtsgerichts Unna waren am Dienstag (15.10.) derweil einige Zuschauer spätestens ab der 40. Tathandlung, die der Staatsanwalt mit unendlicher Geduld in allen Einzelheiten schilderte, unruhig auf ihren Stühlen herumgerutscht.

Grüne verfolgen Prozess im Zuschauerraum

Das Interesse am Ausgang der Abrechnungsaffäre für Marion Küpper war auch bei den Grünen groß, für die die Selmerin 2020 in den Kreistag eingezogen war. So war der Kreisvorstand durch Kassierer Volker Hendrix vertreten, die Geschäftsstelle in Unna hatte Peter Köhler ins Gericht beordert. Und für den Kreis Unna, der die Zahlungen geleistet hatte, nahm Silke Liebig, Leiterin der Stabsstelle Landrat, Kreistag und Gleichstellung, im Zuschauerraum Platz. Zeugen hingegen waren von keiner Seite geladen worden.

Was am Dienstagvormittag noch einmal vor der Öffentlichkeit ausgebreitet wurde, war der Abschluss eines von vier Ermittlungsverfahren, die im Zuge der Abrechnungsaffäre gegen vier Kreistagsmitglieder eingeleitet worden waren.

Hauptpersonen in der Abrechnungsaffäre (v.l.): Timon Lütschen, Marion Küpper und Dr. Hubert Seier, aktuell noch Mitglieder des Kreistages in Unna, sowie Werner Sell, Mitglied des Kreistages bis 2020.
Hauptpersonen in der Abrechnungsaffäre (v.l.): Timon Lütschen, Marion Küpper und Dr. Hubert Seier, aktuell noch Mitglieder des Kreistages in Unna, sowie Werner Sell, Mitglied des Kreistages bis 2020. © Montage: Marcus Land

Was Staatsanwalt Wendt schilderte, war eigentlich eine staubtrockene Rückschau auf die Aktivitäten von Kreistag, Ausschüssen sowie der damaligen Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen zwischen November 2020 und Dezember 2021. Mit dem Wissen von heute entbehrten einige Aspekte allerdings nicht einer unfreiwilligen Komik, die innerlich Kopfschütteln auslösten. Da ging es nicht nur um Sitzungszeiten, sondern auch um sogenannte Rüstzeiten, also die Anfahrtswege zum Kreishaus oder zu Fraktionsräumlichkeiten.

Marion Küpper hatte für diese Zeiten – ein solcher Anspruch nach dem Gesetz besteht grundsätzlich – Entschädigung in Geld verlangt, weil sie angeblich keine Honorare für selbstständige Berufstätigkeiten einnehmen konnte.

Rechtsanwalt beglaubigte Papiere von Küpper

Am 26. Oktober 2020, kurz vor der Aufnahme der Geschäfte des neu gewählten Kreistages, hatte Küpper der Kreisverwaltung mitgeteilt, dass sie Verdienstausfall wegen ihrer Tätigkeiten als Yoga- und Nachhilfelehrerin geltend machen werde. Nachdem der Kreis am 4. November 2020 nähere Informationen angefragt hatte, bezeichnete Küpper sich als „selbstständige Dozentin“ und gab als Zeitraum ihrer Berufstätigkeit montags bis freitags, 10 bis 21 Uhr, sowie samstags von 10 bis 18 Uhr an. Als Anfahrtszeit von Selm zum Kreishaus setzte sie 54 Minuten an.

Eine Frau in einem Büro in Unna schaut in ein Lehrbuch über das Öffentliche Recht in Nordrhein-Westfalen.
In Nordrhein-Westfalen regelt die Entschädigungsverordnung Grundlegendes zu den Aufwandsentschädigungen und zum Verdienstausfallersatz. Der Kreis Unna hat Ende 2023 zudem eine eigene Richtlinie verabschiedet. © Marcus Land

Zur Glaubhaftmachung, so der Staatsanwalt, habe ein Rechtsanwalt Felgner aus Hamburg Küpper den von ihr geltend gemachten Stundensatz von 48 Euro bestätigt. Anschließend teilte Küpper dem Kreis regelmäßig ihre Gremientätigkeit mit – aus der Kreiskasse floss anstandslos rund 13 Monate lang das Geld.

Da schlugen mal fünf- und sechsstündige Fraktionssitzungen zu Buche. Aber auch ihre Teilnahme an Sitzungen des Kreispolizeibeirates, des Ausschusses für Finanzen und Konzernsteuerung und – welch Ironie – ausgerechnet des Rechnungsprüfungsausschusses rechnete die Selmerin ab.

Timon Lütschen sieht „Komplexität“ bestätigt

In drei weiteren Ausschüssen war Küpper als Fraktionsvorsitzende Mitglied, außerdem im interfraktionellen Arbeitskreis Klimaschutzkonzept – Gremienarbeit, die mit der regulären Aufwandsentschädigung, die alle Kreistagsmitglieder qua Gesetz erhalten, honoriert wird. Auf Antrag erhalten Selbstständige auch Verdienstausfall erstattet.

Als eine Einstellung des Verfahrens näher rückte, äußerte Staatsanwalt Wendt in seiner Stellungnahme die Vermutung, dass Geschummel bei Verdienstausfall im Kreistag sicherlich – auch über die weiteren drei von ihm verfolgten Fälle hinaus – kein Einzelfall gewesen sei. „Ich kann mir schon vorstellen, dass das gelebte Übung gewesen ist“, so Wendt.

Dies zeige sich auch daran, dass die Kreisverwaltung schon reagiert und ein Gutachten für eine präzisere Regelung für den Verdienstausfall in Auftrag gegeben habe. Eine Verdienstausfallersatzrichtlinie hatte der Kreistag im November 2023 verabschiedet.

Hierauf spielte auch das strafrechtlich verfolgte Kreistagsmitglied Timon Lütschen an, der ebenfalls auf einem der Stühle im Zuschauerraum den Prozess verfolgte. Ob er wegen der Einstellung des Verfahrens nun ruhiger schlafen könne, beantwortete Lütschen im Gespräch mit dieser Redaktion nicht direkt.

Das Verfahren habe aber gezeigt, wie kompliziert die Abrechnungsmodalitäten gerade für die beruflich selbstständigen Mitglieder bislang gewesen seien. Erst mit der neuen Richtlinie werde ein „qualifizierter Nachweis“ für den Verdienstausfall verlangt. Lütschen ist der einzige aus dem Quartett, zu dem noch Werner Sell und Dr. Hubert Seier gehören, gegen den bislang noch keine Anklage erhoben wurde.