Theo Albrecht (1922 - 2010) im Dezember 1971 nach seiner Entführung: Er wirkt gelöst, doch tatsächlich wird ihn das Martyrium für den Rest seines Lebens begleiten.

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Spektakuläres Verbrechen: Aldi-Entführung nahm in Herten ihren Anfang

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Die Aldi-Entführung war ein bis dahin in der Bundesrepublik so nicht gekanntes Verbrechen. In Herten nahm sie vor 50 Jahren ihren Anfang. Die Lösegeld-Forderung war so spektakulär wie das Ende.

Herten-Süd, Herten

, 29.11.2021, 06:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Selbst viele Hertener wissen nicht, dass sich im Industriegebiet

Hohewardstraße – 200 Meter nördlich der Emscher – einst die Zentrale des Discounter-Riesen Aldi Nord befand. Wo sich heute Großbetriebe, Speditionen und die Müllverbrennungsanlage aneinanderreihen, prägten vor 50 Jahren Brachland und Wald das Bild. Die nahe Zeche Ewald brummte, von den Halden war noch fast nichts zu sehen.

An diesem abgelegenen Zipfel der mit 50.000 Einwohnern beschaulichen, aber wirtschaftlich aufstrebenden Bergbaustadt Herten nimmt am 29. November 1971 ein Verbrechen seinen Lauf, das die noch junge Bundesrepublik bis dahin nicht gekannt hat. Es ist die erste Entführung eines Prominenten – jedoch eines außergewöhnlichen. Obwohl Aldi-Nord-Gründer Theo Albrecht längst Multimillionär ist und mit seiner Familie in einer Villa im noblen Essen-Bredeney residiert, kennt ihn kaum jemand. Der 49-jährige zweifache Vater, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen in Essen, scheut die Öffentlichkeit.

Die Kidnapper zweifeln: Dieser Mann im billigen Anzug?

In dem schlichten Bürokomplex an der Hohewardstraße 345 sind bereits die Lichter erloschen, die Angestellten und auch der Pförtner haben um 17 Uhr Feierabend gemacht. Der Chef geht erst gegen 18.30 Uhr zu seinem Mercedes 280 SEL mit dem Kennzeichen RE-AL 280, der auf einem Gästeparkplatz abgestellt ist.

An der Hohewardstraße in Herten-Süd, wo heute noch eine Aldi-Regionalgesellschaft, die Immobilienverwaltung und eine Kaffeerösterei ansässig sind, befand sich 1971 die Hauptverwaltung des Discounter-Unternehmens Aldi Nord. Hier wurde Theo Albrecht am Abend des 29. November in seinem Auto entführt.

An der Hohewardstraße in Herten-Süd, wo heute noch eine Aldi-Regionalgesellschaft und die Immobilienverwaltung ansässig sind, befand sich 1971 die Hauptverwaltung des Discounter-Unternehmens. Hier wurde Theo Albrecht am Abend des 29. November in seinem Auto entführt. © Frank Bergmannshoff

Die zwei Entführer, die ihm dort auflauern, haben ihr Wissen über das Vermögen der Unternehmerbrüder Theo und Karl Albrecht aus dem Buch „Die Reichen und die Superreichen.“ Doch als sie ihr Opfer im Halbdunkel erspähen, mögen sie kaum glauben, dass dieser Mann im billigen Anzug der Kopf eines Unternehmens mit drei Milliarden D-Mark Jahresumsatz sein soll. Abgesehen von Haus und Auto lebt Theo Albrecht tatsächlich so bescheiden, dass man ihm den Wohlstand nicht ansieht. Auch einen Fahrer hat er nicht.

Täter lassen sich den Ausweis zeigen

So kommt es zu einer ungewöhnlichen Szene. Die Kidnapper – die Mantelkragen hochgestellt, die Hüte ins Gesicht gezogen – treten links und rechts an Albrecht heran und fragen ihn nach seinem Personalausweis. Der zeigt das grüne Heftchen vor. Tatsächlich: Theo Albrecht. Mit Pistolen drängen die Männer ihn, einzusteigen.

Er muss auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Ein Entführer setzt sich ans Steuer, der andere drückt Albrecht von hinten die Waffe an den Hals. So setzt sich der Wagen auf dem Aldi-Gelände in Bewegung. Durch die Dunkelheit geht es etwa sieben Kilometer weit nach Gelsenkirchen-Resse zur Ahornstraße. Der Mercedes bleibt dort ordnungsgemäß am Straßenrand geparkt zurück, wird später von der Polizei entdeckt.

Doch die hat von dem Verbrechen erst einmal keine Kenntnis. Gegen 20 Uhr ruft Cäcilie „Cilly“ Albrecht bei der Polizei in Herten und Essen an, um zu fragen, ob es einen Verkehrsunfall gegeben hat. Denn eigentlich trifft ihr Mann jeden Tag gegen 19.45 Uhr zu Hause ein.

Nächtlicher Anruf reißt Familie aus dem Schlaf

Kurz nach Mitternacht holt das klingelnde Telefon die Familie aus dem Schlaf. Am anderen Ende der Leitung sagt eine Männerstimme: „Wir haben Ihren Mann entführt.“ Und: Keine Polizei, keine Presse. Cilly Albrecht ruft den Anwalt der Familie an, der die Polizei informiert. Die Medien bleiben tatsächlich elf Tage lang außen vor. Dann sickert die Geschichte durch.

Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Theo Albrecht an der Graf-Adolf-Straße 45 in Düsseldorf in der Bürowohnung des Rechtsanwalts Heinz Joachim Ollenburg. Er ist einer der Entführer, Paul Kron alias „Diamanten-Paule“ der andere.

Kurios: In der Anwaltskanzlei geht der Betrieb weiter, während Theo Albrecht in seinem Verlies, abgeteilt lediglich durch einen Schrank und ein Tuch, ein Martyrium erlebt. Er darf nur Unterwäsche tragen. Seine Augen sind verdeckt – nur dann nicht, wenn er Erpresserbriefe schreiben soll.

Ruhrbischof Hengsbach übergibt das Lösegeld

Sieben Millionen D-Mark fordern die Entführer – angeblich das bis dahin weltweit höchste Lösegeld. Kein Geringerer als Ruhrbischof Franz Hengsbach übergibt den Betrag am 16. Dezember in zwei Aktenkoffern auf einem dunklen Feldweg in der Nähe von Düsseldorf. Theo Albrecht wird freigelassen, muss aber – wie von den Tätern gefordert – noch 24 Stunden in der Obhut des Geistlichen bleiben. Erst dann darf er nach Hause zu seiner Familie. Die Entführung hinterlässt Spuren. Er meidet fortan noch stärker das Licht der Öffentlichkeit. Sicherheit ist ihm wichtig.

Theo Albrecht spricht rund 24 Stunden nach seiner Freilassung im Dezember 1971 von einem Fenster seiner Villa in Essen-Bredeney zu Journalisten.

Theo Albrecht spricht rund 24 Stunden nach seiner Freilassung im Dezember 1971 von einem Fenster seiner Villa in Essen-Bredeney zu Journalisten. © picture alliance / dpa

Die Polizei leitet die für damalige Verhältnisse größte Fahndung der Bundesrepublik ein. Eine mehr als 160-köpfige Sonderkommission ermittelt. Die Täter werden zügig gefasst und zu je achteinhalb Jahren Haft verurteilt.

Heinz Joachim Ollenburg († 93) und Paul Kron († 87) sterben beide Anfang 2017, Theo Albrecht († 88) im Jahr 2010. Kostenbewusst wie er war, hatte Albrecht zunächst versucht, das Lösegeld als Betriebsausgabe von der Steuer abzusetzen – sogar gerichtlich, aber vergeblich. Die Hälfte des Geldes ist nie wieder aufgetaucht. Jedes Jahr rief Albrecht seine Entführer an, um sie nach dem Verbleib zu fragen.

Die südliche Hohewardstraße ist heute eine wenig einladende Adresse im

Industriegebiet Emscherbruch. Nichts erinnert an den Kriminalfall, der die Republik in Atem hielt. Überhaupt ist kaum vorstellbar, dass von hier aus einst die Geschicke eines Imperiums gelenkt wurden.

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