
Nein, uns liegt kein Papier mit den umstrittenen Passagen zum neuen Vertrag über die Notarztversorgung in Recklinghausen vor. Es gibt lediglich die zuweilen nebulösen Antworten des Pressesprechers der Stadt, Hermann Böckmann, auf Fragen unserer Redaktion. Böckmann zitiert dabei „beispielsweise“, wie er ausdrücklich betont, den Paragraphen 7, Absatz 3 des Rettungsgesetzes NRW.
Ausgerechnet diese Stelle als „Beispiel“ anzuführen, war mit Sicherheit kein Zufall. Denn in diesem Absatz geht es darum, wer bei der Notarztversorgung das Sagen hat. Das müsse der „Träger“ sein, in Recklinghausen also die Stadt. Sie verhandelt schließlich auch mit den Hospitälern.
Und da liegt offensichtlich das größte Problem. Angesichts der jüngsten Vergangenheit liegt der Gedanke nahe, dass die Stadt den neuen Vertrag nutzen will, um künftig ein deutlich größeres Mitspracherecht zu erhalten, wenn es um die eingesetzten Notärzte geht.
Seit Monaten gibt es einen erbitterten Streit um schlimme Fehler beim Rettungseinsatz nach dem Zugunglück von 3. Februar 2023. Seinerzeit war ein zehnjähriger Junge getötet und ein Neunjähriger lebensgefährlich verletzt worden. Beide waren erst nach eineinhalb Stunden und nur durch blanken Zufall gefunden worden.
Der Notarzt Dr. Elmar Segbers hatte die Fehler beim Rettungseinsatz angeprangert, auf Aufklärung und Besserung gedrängt. Das kam nicht nur beim Chef der Feuerwehr nicht gut an. Der Erste Beigeordnete drohte Segbers gar mit einer Strafanzeige wegen übler Nachrede.
Segbers zeigte sich unbeeindruckt, wehrte sich seinerseits mit Dienstaufsichtsbeschwerden. Der Streit eskalierte. Der Chef der Feuerwehr versuchte alles, um den beharrlichen Notarzt kaltzustellen, was ihm zunächst nicht gelang. Am Ende jedoch erreichte er – mit Unterstützung des Bürgermeisters, des Ersten Beigeordneten und des Kreises – zumindest vorläufig sein Ziel. Ganz rauswerfen konnte er ihn zwar nicht, denn Segbers ist Angestellter des Elisabeth-Krankenhauses. Aber Segbers darf seit Anfang April keine Notarzt-Einsätze mehr fahren.
Ende des Vertrages kommt gerade recht
In dieser Situation kommt das Ende des Vertrags mit den Krankenhäusern über die Notarztversorgung als Druckmittel gerade recht. Alles deutet darauf hin, dass die Stadt – vor allem Thorsten Schild, der Chef der Feuerwehr – jetzt diesen „Nestbeschmutzer“ Dr. Segbers auf elegante Weise auf Dauer loswerden will.
Wie genau das geschehen könnte, ist unklar. Um diese Frage zu beantworten, müsste man die exakten, offenbar strittigen Vertragsformulierungen kennen. Rein formal, das machte Stadtsprecher Böckmann klar, könne nur der Ärztliche Leiter des Rettungsdienstes (der sitzt beim Kreis und nicht bei der Stadt), dem Notarzt Anweisungen erteilen. Der Einsatzleiter der Feuerwehr könne das ausschließlich in einsatztaktischen Dingen während eines Einsatzes tun.
Das ist, wie gesagt, der grobe rechtliche Rahmen. Entscheidend ist allerdings die Ausgestaltung der Details in diesem Rahmen. Es deutet alles darauf hin, dass Stadt und Feuerwehr in den Verträgen sicherstellen wollen, dass sich ein neuer „Fall Segbers“ mit einem so „widerborstigen“ Kollegen nicht wiederholen kann. Dass also die Feuerwehr bei Differenzen sagen kann: Mit dem Notarzt oder der Notärztin fahren wir nicht mehr.
Für Segbers, der im Moment ja nur eine „Notarzt-Zwangspause“ macht, würde das bedeuten: Er könnte seinen Job verlieren, denn das Elisabeth-Krankenhaus hat ihn ja als Notarzt angestellt. Der Feuerwehr-Chef aber hätte einen kritischen Geist aus dem Weg geräumt.
Und wenn die Krankenhäuser da nicht mitspielen wollen, könnte die Stadt die Notarzt-Versorgung theoretisch auch anders organisieren. Auch in dem Fall wäre Segbers seinen Job los.

Ich hoffe, dass ich mit meinen Spekulationen falsch liege, fürchte aber, dass das nicht der Fall ist. Sollte der Vertrag – in welcher rechtlichen Form und mit welchen Klauseln auch immer – so gestrickt werden, dass am Ende die Stadt/ Feuerwehr Einfluss darauf nehmen könnte, was mit einem Notarzt geschieht, hielte ich das für ungeheuerlich. Das wäre aus meiner Sicht das i-Tüpfelchen auf einem schon jetzt seit dem 3. Februar 2023 immer größer werdenden Skandal.
Vertuschung eigener Fehler
An dieser Stelle muss noch einmal eines klargestellt werden: Seit dem Zugunglück geht es den Verantwortlichen vom Feuerwehr-Chef bis zum Bürgermeister nicht um die Opfer und ihre Familien, nicht um die Helfer, nicht darum, beim Rettungseinsatz gemachte Fehler zu benennen und für alle Zukunft abzustellen. Es geht ihnen vielmehr um Vertuschung und Beschönigung eigener Fehler und die Diffamierung des mutigen Mannes, der den Finger in die Wunde gelegt hat. Das macht mich einfach nur wütend.
Zu denken gibt mir zudem die Art und Weise, wie zurückhaltend die Politik in Recklinghausen auf die ungeheuren Vorgänge reagiert. Die Staatsanwaltschaft beschäftigt sich mit zwei Strafanzeigen – unter anderem gegen Thorsten Schild und den Ersten Beigeordneten. Einmal geht es um den Vorwurf der „Körperverletzung im Amt“. Im zweiten Fall läuft ein Ermittlungsverfahren wegen des Todes eines 57-jährigen Mannes. Ach ja, und die Dienstaufsichtsbeschwerden gegen dieselben Menschen gibt es ja auch noch.
Und die Opposition im Rat schweigt zu alledem ? Ich kenne Städte, da hätte die Politik aus einem geringeren Grund die Verantwortlichen so unter Druck gesetzt, dass die freiwillig ihr Amt bis zur endgültigen Aufklärung hätten ruhen lassen. Was ist nur los mit den gewählten Politikerinnen und Politikern im Rat von Recklinghausen? Warum nehmen sie ihre Aufgabe, die Verwaltung zu kontrollieren, wenn überhaupt, so doch maximal lethargisch wahr?
Irgendwie passt das allerdings auch zur Stimmung in der Bevölkerung in Recklinghausen. Als unsere Redaktion im Februar den fehlerhaften Rettungseinsatz öffentlich machte, gab es ein paar Stimmen, die sich für die Recherchen bedankten. Große Aufregung gab es nicht.
Warum nicht? Schließlich ging es um ein totes Kind und seinen lebensgefährlich verletzten Freund. Beide mussten in einer eiskalten, verregneten Nacht eineinhalb Stunden warten, ehe ihnen geholfen wurde. Es ging um schlimme Fehler beim Rettungseinsatz, um Vertuschung und Mobbing gegen den Mann, der solche Fehler künftig verhindern wollte. Um den Tod eines 57-jährigen Mannes, der (zu) lange auf einen Notarzt warten musste. Eigentlich sind all das Zutaten, die in einer normalen Stadt eine maximale Empörung garantieren. In Recklinghausen nicht. Da herrscht Schweigen, Ruhe.
Warum ist das so? Für Hinweise wäre ich dankbar. Seit Wochen kreist nämlich ein schlimmer Gedanke in meinem Kopf. Noch will ich diesem Gedanken keinen Raum geben, ich frage mich aber doch: Wäre die Reaktionen von Politik und Bevölkerung eine andere, wenn die Opfer nicht Flüchtlings-Kinder wären, sondern zwei deutsche Jungen aus gutem Haus mit blonden Haaren?