
© Stella Olivier
So spektakulär war die Eröffnungspremiere „Sibyl“ der Ruhrfestspiele
Inszenierung des Weltstars William Kentridge
Mit einer außergewöhnlichen Theaterpremiere haben die Ruhrfestspiele am Dienstagabend eröffnet. Das Stück „Sibyl“ des weltweit bekannten Künstlers William Kentridge war zum ersten Mal in Deutschland zu sehen. Doch wie gut war seine Inszenierung wirklich?
Wer glaubt, der eigene Schreibtisch wäre durcheinander, der hat den des Künstlers William Kentridge noch nicht gesehen. Über und über häufen sich alte Akten darauf, Briefe, Zeitungen. Ein Chaos? Nicht ganz, denn im Laufe dieses ungewöhnlichen Abends werden aus den Zetteln zuerst ein Kurzfilm und dann ein Stück Musiktheater.
Zwischen Kunst und Bühne
William Kentridge (67), geboren in Südafrika, gilt als einer der wichtigsten Künstler unser Zeit. Ein Genie, das mit seinen schwarz-weißen Zeichentrickfilmen auf Messers Schneide zwischen Kunst und Theater balanciert. Deshalb saß bei der Deutschland-Premiere von „Sibyl“ am Dienstagabend nicht nur Polit-Prominenz wie die NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen im Publikum. Auch der Bochumer Theater-Intendant Johan Simons, Peter Gorschlüter als Direktor des Folkwang-Museums und Theo Grütter als Direktor des Ruhr Museums, Inke Arns (Hartware Medienkunstverein Dortmund) und Britta Peters (Urbane Künste Ruhr) waren gekommen.
Der Abend beginnt mit einem Kurzfilm
Alles beginnt mit dem Film „The Moment Has Gone“, begleitet vom Live-Piano und einem Gesangsquartett. In diesem Kurzfilm trifft sich Kentridge selbst. Besonders befreundet scheint er nicht mit sich zu sein, die Herren muffeln sich an. Und dann gibt es ihn in einer gezeichneten Version, wie er sich ein Museum ansieht.
Faszinierend, wie hier eine Landschaft lebendig wird. Schwarze Menschen haben leere Teller, arbeiten in einer Mine. Ein Zettel im Bild warnt den Betrachter „You will be robbed“ (Du wirst beraubt) und, noch schlimmer, „You will be robbed of speech (Du wirst Deiner Sprache beraubt). Hier geht es nicht nur um die Schrecken der Apartheid, sondern auch ums Altwerden – vor allem, wenn das Museum zerfällt. Genial, wie sich der Inhalt aus einem Gemälde ergießt. Zum Schluss bleibt nur ein Grab.
Ist das ein Alterswerk?
Wie ein Alterswerk, wie der Weisheit letzter Schluss wirkt auch die Kammeroper „Waiting For The Sibyl“ im Zentrum des Abends. Gemeint ist die Prophetin Sibylle von Cumae aus der römischen Mythologie. Sie schrieb das Schicksal der Menschen auf Baumblätter, die der Wind jedoch verwehte. In sechs Szenen nehmen es zehn Sänger und Sängerinnen mit der Zettelwirtschaft und ihren geheimnisvollen Botschaften auf. „Warte auf bessere Götter“ heißt es da, oder „Warte auf bessere Menschen“.
Die Musik von Kyle Shepherd, aber auch traditionelle Lieder geben das pulsierende Tempo vor. Es ist ein Hochenergieabend, an dem Teresa Phuti Mojela in der Titelrolle beeindruckt. Ihr Schatten tanzt in perfektem Einklang mit Bäumen, die Kentridge hinter sie gezeichnet hat.
Voller Tempo und Energie
„Sibyl“ dauert mit einer Umbau-Pause rund 80 Minuten und hat keine richtige Handlung, bewegt sich nur von fröhlichen Szenen zum düsteren Ende. Dieses Stück ist vor allem ein ästhetisches Erlebnis voller faszinierender visueller Effekte, ein Gesamtkunstwerk aus den mitreißenden Klängen Südafrikas und geheimnisvollen Botschaften. Schon während der Vorstellung zieht und zupft der Verstand der Besucher innerlich an den Sprüchen auf den Zetteln, man will sie verstehen. Auf der Rätsel-Skala von Eins bis Zehn haben wir es hier allerdings mit einer Zwölf zu tun. So blieb der Applaus freundlich, aber nicht überschwänglich.
Festrede begeisterte das Publikum
Zuvor hatte am Dienstagabend die Schriftstellerin und politische Aktivistin Sharon Dodua Otoo (gesprochen Otu) mit einer klugen, humorvollen und geistreichen Festrede begeistert und die 600 Menschen im Publikum tief bewegt. „Es war einmal ein Haus ...“ hatte sie im Stil eines Märchens begonnen. Erst nach und nach merkte der Zuschauer, dass sie das Große Haus der Ruhrfestspiele meinte. „Ich bin Geschichtenerzählerin“, sagte sie. „Wir alle erzählen ständig Geschichten.“
Sie wurde aber auch ganz konkret, erinnerte an das Schicksal der Künstlerin Fasia Jansen (1929-1997) . Die schwarze Liedermacherin war 1970 von der Staatsanwaltschaft vorgeladen worden, weil sie an einer nicht genehmigten Anti-NPD-Demo in Recklinghausen teilgenommen hatte. Der Vorwurf: Volksverhetzung. Jansen wehrte sich und schrieb: „Der Tatbestand der Volksverhetzung ist einzig und allein von der Nachfolgepartei der NSDAP erfüllt. Es müsste die Aufgabe der Staatsanwaltschaft sein, gegen diese Partei zu ermitteln auf die die Beschuldigungen der Vorladung zutreffen. Als „Nichtarierin“ fühle ich mich erneut verfolgt.“ Das Verfahren wurde schließlich eingestellt. Jansen war in der Nazizeit wegen ihrer Hautfarbe verfolgt worden und musste in einer Küche arbeiten, die auch eine Außenstelle des KZ Neuengamme belieferte.
Kultur ist eine Reise ins Abenteuer, und ich verstehe mich als Ihr Reiseführer. Welche Ausstellung in der Region ist super? Vor welchem Theaterstück muss ich warnen? Da nützt ein Magisterabschluss in Germanistik und Kunstgeschichte von der Ruhr-Uni Bochum nur bedingt. Mir hilft mehr, dass ich seit 1990 Journalistin und ein 1963 in Essen geborener Ruhrgebiets-Fan bin. Mein Ziel: Dass Sie mit unseren Tipps ihre Freizeit gut gestalten.
