Der Totenschein-Skandal NRW verschleudert Geld für völlig unnötigen Alleingang

Der Totenschein-Skandal: NRW verschleudert Geld für völlig unnötigen Alleingang
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Ulrich Breulmann

Das Thema klingt banal. Wen interessieren Totenscheine? Dabei spielt sich um sie gerade eine Realsatire ab, die die irrsinnigen Auswüchse des Föderalismus bloßlegt. Geradezu skandalös ist die Rolle, die das Land NRW dabei spielt. Dazu später mehr.

Zunächst von Anfang an. Stirbt ein Mensch, stellt ein Arzt einen Totenschein aus. Seit Jahrzehnten gibt es dafür einen Formularblock, ähnlich dem Quittungsblock, der vor 40 Jahren modern war, mit Pauspapier zwischen zwei Seiten. Beim Totenschein werden im „Durchschreibverfahren“ vier Kopien erstellt. Dass die Lesbarkeit mit jeder Kopie sinkt – logisch. Hinzu kommt, dass Ärztinnen und Ärzte nicht immer super leserlich schreiben.

Es sind also fünf Blätter. Das erste geht zum Standesamt. Es enthält Name, Adresse, Geschlecht, Geburtsdatum, nichts zur Todesursache. Das letzte Blatt behält der Arzt, der den Schein ausstellt.

Die Blätter 2 bis 4 mit Angaben zur Todesursache gehen ans Gesundheitsamt. Das prüft die Angaben und schickt das vierte Blatt (die dritte Kopie also) einmal im Monat ans Statistische Landesamt. Dort müssen Menschen die Zettel entziffern und den Code für die Todesursache in den Computer eingeben.

Die Statistischen Landesämter sammeln die Zahlen und schicken sie zweimal im Jahr ans Statistische Bundesamt (StBA) – jedes Bundesland in etwas anderer Form, denn es gibt nicht ein Formular, sondern 16 verschiedene. Jedes Bundesland hat ein eigenes. Daraus entsteht die Todesursachenstatistik, eine wichtige Quelle für die Gesundheitspolitik in Deutschland.

Nur 223 von 10.000 Totenscheinen waren fehlerfrei

Wie verlässlich so gesammelte Daten sind, hat die Uni Rostock 2017 untersucht. Sie überprüfte 10.000 Totenscheine. Nur 223 (kein Witz) waren fehlerfrei. 27 Prozent wiesen schwere Fehler auf. Eine andere Studie ergab 2023, dass „mindestens zehn Prozent der deutschen Todesbescheinigungen Qualitätsprobleme haben“. Peinlich.

Neuer Totenschein bewährt sich im Test, doch das kümmert NRW nicht

2019 beauftragte das Bundesgesundheitsministerium das StBA und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, zu untersuchen, wie ein bundesweit einheitlicher digitaler Totenschein aussehen könnte. Im Juni erhielt das Ministerium den bis heute unveröffentlichten Abschlussbericht.

Ergebnis: Bestnoten für den digitalen Totenschein. Die Daten-Erfassung per App wurde in Leipzig und Ludwigsburg getestet – mit Erfolg. Ärztinnen und Ärzte seien ebenso begeistert gewesen wie Gesundheits-, Standes- und Statistisches Landesamt, sagt das Gesundheitsministerium auf Anfrage. Die Prozesse könnten beschleunigt und vereinfacht werden.

Das Papier-Verfahren sei zeitaufwändig und fehleranfällig. Es habe sich gezeigt, „dass elektronische Todesbescheinigungen deutlich schneller bearbeitet werden“, sagt das StBA und: „In einer Pandemie wäre es von entscheidender Bedeutung gewesen, Todesursachendaten zeitnah und zuverlässig (...) zu aktualisieren, um Öffentlichkeit und Politik über das infektionsbedingte Sterberisiko und andere todesursachenspezifische Sterberisiken zu informieren“.

Da stellt sich die Frage: Wenn die Technik vorhanden ist, die Qualität, Tempo und Nutzen verbessert, Kosten und Personal spart, warum gilt der digitale Totenschein nicht sofort deutschlandweit? Antwort: Totenscheine sind Ländersache.

Der Föderalismus, der uns schon in Corona-Zeiten den letzten Nerv geraubt hat, droht auch für den digitalen Einheits-Totenschein zum Todesurteil zu werden. Jeder Landesfürst verteidigt sein eigenes Formular, als ginge es um Sein oder Nichtsein. Egal, ob sinnvoll oder nicht, egal, ob es mehr Personal und Geld kostet, egal, ob wichtige Infos zur Bekämpfung einer Seuche zu spät und fehlerhaft ankommen.

NRW erfindet das Rad neu

Das Bundesgesundheitsministerium sagt, es werbe bei den Ländern für eine Einigung. Das Ergebnis stehe noch aus. Das Statistische Bundesamt hat eine dunkle Ahnung, wie es ausgeht. Es warnt, dass jedes Bundesland sein eigenes Formular digitalisiert und eine eigene Software entwickelt, statt den fertigen Einheits-Totenschein zu nutzen: Das „würde zu einem IT-Wirrwarr führen und Entwicklungskosten steigern“.

Die Befürchtung der Statistiker ist begründet, denn: Auf Anfrage berichtet das NRW-Gesundheitsministerium, man habe mit dem Landeszentrum Gesundheit und den beiden NRW-Ärztekammern „einen Prozess angestoßen“, in dem „das Todesbescheinigungsformular sowie die in Verbindung mit der Todesbescheinigung stehenden Abläufe näher beleuchtet, überarbeitet und gegebenenfalls im Rahmen von Modellprojekten erprobt werden.“

Unfassbar! Das Land will das Rad neu erfinden, zigtausend Euro für Entwicklung und Erprobung eines eigenen digitalen Totenscheins verbrennen. Obwohl es einen fertigen, erprobten bundesweit einheitlichen digitalen Totenschein gibt, den NRW sofort nutzen könnte. Das ist skandalös. Wer stoppt diesen Unfug? Wann müssen die Verantwortlichen für solche Steuerverschwendungen endlich auch persönlich haften?