Dass sie nicht auf die gleiche Art und Weise liebt, wie viele andere, weiß Sina* bereits, seitdem sie fünfzehn Jahre alt ist. Um ihre Anonymität zu wahren, haben wir ihren Namen geändert. Im Jugendalter begann sie zu daten und merkte schnell, dass sie sich immer wieder neu verliebte, selbst wenn sie in einer festen Beziehung war. „Ich komme ursprünglich aus einem Dorf im Sauerland. Da war Polyamorie natürlich kein Thema“, erzählt die heute 30-Jährige.
Der Begriff Polyamorie beschreibt ein Beziehungsmodell, bei dem sich eine Person in Liebesbeziehungen mit mehreren Partnern befindet – völlig transparent den beteiligten Personen gegenüber. „Der Gedanke, nur eine Person zu lieben, war mir immer schon fremd“, meint Sina. Als Jugendliche ging sie trotzdem monogame Beziehungen ein, die sie aber nicht komplett erfüllten.
Das Ganze änderte sich, als sie mit 20 zum Studieren nach Dortmund zog. Der Bruder ihres damaligen Partners führte eine offene Ehe. Durch das vorgelebte Beziehungsmodell neugierig geworden, begann Sina zu recherchieren und stellte für sich fest, dass sie polyamor ist. Mit ihrem Partner klärte sie ab, dass sie neben ihm einen weiteren Mann daten möchte. „Die beiden wussten voneinander, haben sich aber nie kennengelernt“, erzählt Sina.
Richtig ausgegoren war die Beziehungskonstellation damals noch nicht. „Mein ursprünglicher Freund, der noch im Sauerland lebte, wollte zu viel Kontrolle ausüben. Wenn mein anderer Freund um 13 Uhr gegangen ist, dann wollte er direkt um 13.10 Uhr bei mir vorbeikommen. Ich brauchte aber natürlich auch Zeit für mich.“
Generell sei es in polyamoren Beziehungen anspruchsvoll, die Bedürfnisse aller Beteiligten unter einen Hut zu bekommen. „Das sind vollwertige romantische Beziehungen, in denen man sich auf den anderen einlässt. Das ist zeitintensiv“, erzählt Sina. Nachdem es mit dem Partner aus dem Sauerland aus war, wollte der andere Mann sie voll vereinnahmen und eine monogame Beziehung mit ihr führen. Zu diesem Zeitpunkt merkte Sina, dass sie ihre Polyamorie und ihr Beziehungsleben anders, „professioneller“ angehen muss.
Gleichgesinnte und „Polyküle“
Online fand sie einen polyamoren Stammtisch. „Ich habe mich dann eines Abends einfach fertig gemacht und bin dort vorbeigegangen“, erzählt sie. Anfänglich sei sie skeptisch gewesen, habe geglaubt, dass es bei dem Stammtisch um Sex-Kontakte ginge. Stattdessen sei sie auf Gleichgesinnte gestoßen, mit denen sie sich austauschen konnte.
„Wenn es nur um Sex mit mehreren Partnern geht, gibt es andere Modelle, offene Beziehungen oder Swingen zum Beispiel.“ Polyamore Beziehungen dagegen seien Liebesbeziehungen. Diese können höchst komplexe Strukturen aufweisen. „Eine Beziehung, in der viele Menschen in einer Verkettung miteinander liiert sind, nennen wir ein ‚Polykül‘“, erklärt die junge Recklinghäuserin.
Häufig gebe es allerdings eine Ausgangsbeziehung mit einem „Nesting-Partner“ oder einer „Nesting-Partnerin“. Mit dieser Person könnte man sich vorstellen, sesshaft zu werden oder Kinder zu haben. „So ist es bei mir jedenfalls“, fügt Sina hinzu.
Eine gelungene, polyamore Bindung entstehe ihrer Erfahrung nach aus einer stabilen Ausgangsbeziehung. Darüber hinaus gebe es alle möglichen Konstellationen. Damit das gut gehe, brauche es viel Kommunikation und Selbstreflexion.

„Eifersucht in dem Sinne empfinde ich nicht“, erzählt Sina. Häufig stecke hinter der Eifersucht etwas anderes. Eigene Unsicherheit zum Beispiel. „Negative Gefühle kommen auf, wenn man sich mit der anderen Person vergleicht, die eine Beziehung zum eigenen Partner führt.“ Das sei aber vollkommen in Ordnung.
„Gefühle wie Eifersucht sind erstmal valide. Wenn man offen darüber sprechen kann, dann können alle gemeinsam daran wachsen.“
Der Moment, ab dem man das Gelernte integrieren könne, sei der, ab dem polyamore Beziehungen richtig toll seien, meint Sina. „Es ist total schön, sich mit dem Partner darüber zu freuen, dass er verliebt ist.“
Wer kümmert sich im Alter?
Polyamore Beziehungen hätten oftmals das Label, dass sie vor allem etwas für junge Linke seien, die das Konzept der monogamen Beziehung als einen Teil der wirtschaftlichen Gesamtordnung ablehnten. Dies sei ein Trugschluss, sagt Sina. Es gebe auch ältere und konservativere Paare, die beispielsweise ihre Ehe öffneten.
In ihrem Umfeld gebe es niemanden, der sich an ihrem Lebenskonzept stoße. Nur auf die Arbeit gehe sie mit dem Thema nicht hausieren. „Meine Eltern zum Beispiel sind cool. Die konnte ich damit nicht schockieren.“
Einzig darüber, wer sich im Alter um sie kümmert, habe sich ihre Mutter Sorgen gemacht, davon ausgehend, dass polyamore Bindungen unsteter seien. Eine Anekdote aus ihrem Beziehungsleben habe diese Sorgen ausgeräumt. „Ich musste ins Krankenhaus und mein Auto zum TÜV. Mein einer Partner hat mich zu der Untersuchung gebracht, der andere das Auto in die Werkstatt“, so Sina. Nach dieser Erzählung sei ihre Mutter beruhigt gewesen. „Es kümmern sich also mehrere Menschen um dich“, habe sie verstanden.
Das polyamore Beziehungsmodell habe aber nicht nur Vorteile. „Nicht immer mag man die anderen Menschen, mit denen der Partner zusammen ist.“ Bei manchen Paaren gebe es dann ein Veto-Recht, weiß Sina. Neue Gefährten müssten erstmal die bestehenden Beziehungen kennenlernen und in diesen Situationen bestehen. Für Sina sei die Lösung aber nichts.
„Bei der Polyamorie geht es für mich darum, dass jeder und jede frei entscheiden kann, wer oder was ihnen guttut.“ Wenn sich nicht alle Personen in einer Beziehungskonstellation sympathisch seien, wäre es ihr wichtig, dass man einen zivilen Umgang miteinander wahre. „Es gibt auch die sogenannte ‚Kitchen Table Polyamory‘, bei der sich alle Beteiligten so gut verstehen, dass man zusammen essen oder abhängen kann.“ Das ginge halt nur nicht immer.
Insgesamt könne man polyamore Beziehungen laut Sina mit tiefen Freundschaften vergleichen: „Mit der einen Person versteht man sich auf einer Ebene, mit der anderen, auf einer anderen Ebene.“ Polyamorie sei für sie nicht besser als Monogamie, nur das für sie passende Modell.
Gleiche Rechte vor dem Gesetz
Insgesamt sei Polyamorie kein rein modernes Phänomen, auch wenn der Begriff den 1990er-Jahren entstammt. Im Laufe der Menschheitsgeschichte habe es immer wieder Beispiele für alternative Beziehungsmodelle gegeben, ist sich Sina sicher. Ein antikes Beispiel ist Alexander der Große, der neben drei Ehen wohl auch eine Liebesbeziehung mit seinem engen Vertrauten Hephaistion führte. Bereits im früheren 20. Jahrhundert hatten die französischen Philosophen und Denker Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir eine offene Beziehung geführt, bei denen beiden Seitensprünge gewährt waren.
Heutzutage sei das Thema Polyamorie durch soziale Medien viel präsenter und mehr junge Menschen würden sich in diesem Bereich ausprobieren. Sinas Ziel ist es aber, zur Ruhe zu kommen. „Meine Beziehungen sind genauso langfristig angelegt wie die von monogam lebenden Paaren. Ob es ewig hält, das weiß man natürlich nicht. Aber das gilt ja heutzutage auch für traditionelle Ehen.“
Aktuell kämpfe die Community unter anderem dafür, ähnliche Rechte zu bekommen wie Ehepartner. „Dass, wenn zum Beispiel jemand ins Krankenhaus muss, alle Partner Besuchsrecht haben.“ Beziehungsverträge, die dem Angehörigenstatus rechtlich gleichkämen – das sei ein wichtiger Schritt dahin, sich seine Familie selbst aussuchen zu können, findet Sina.
Menschen, die sich für das Thema Polyamorie interessieren, finden mehr Informationen auf der Online-Plattform www.polyamorie-ev.de
Dieser Artikel erschien ursprünglich im Oktober 2023.