
Im Internet tauscht sich Christian Holtmannspötter mit anderen Schlaganfall-Patienten aus: „Einer joggt wieder. Das werde ich wohl nicht mehr können.“ Stillstand sei für ihn dennoch keine Option, auf gar keinen Fall. © Tobias Mühlenschulte
Schlaganfall mit 40: Familienvater kämpft sich zurück ins (Berufs-)Leben
Mutmacher
Beim Fernsehen schläft Christian Holtmannspötter ein. Als der Recklinghäuser aufwacht, ist ihm schlecht und schwindlig. Er kommt ins Krankenhaus. Diagnose: Schlaganfall. Ein langer Weg beginnt.
Als es passierte, so erzählt Christian Holtmannspötter, sei das wie ein Alkohol-Vollrausch gewesen. „Aber noch viel stärker und als Dauerzustand“, sagt der 44-Jährige über seinen Schlaganfall am 7. April 2018. Heute wohnt er wieder in seinem Elternhaus in Suderwich – gemeinsam mit seinen Kindern (4, 6 und 17 Jahre alt) und seiner Frau Kathrin, mit der er seit fast sechs Jahren verheiratet ist. „Der Schlaganfall und seine Folgen waren für unsere Beziehung nicht immer gut“, sagt Holtmannspötter.
Eine dieser Folgen ist eine Ataxie – eine neurologische Störung, die es ihm schwer macht, seine linke Körperhälfte so zu bewegen, wie er es möchte. Aber seine Frau, seine Schwester, sein Vater und seine Freunde hätten ihm in all der Zeit den Rücken freigehalten – und tun es heute noch. Der gelernte Koch schaut nach vorn. Er lacht viel, verströmt Optimismus, möchte anderen Betroffenen Mut machen, freut sich auf die Zukunft. Das war nicht immer so.

Christian Holtmannspötters französische Bulldogge Emma kam nach dem Schlaganfall ihres Herrchens bei dessen Vater Heinz unter. Seine Familie hat dem Suderwicher Rückhalt in einer schweren Zeit gegeben. © Tobias Mühlenschulte
Sanitäter holen Christian Holtmannspötter ab – und liegen ganz falsch
Sohn Noah ist zwei Monate alt, als sein Vater ins Krankenhaus kommt. Holtmannspötter schläft beim Schauen einer Serie auf der Couch ein. „Ich bin wach geworden und alles hat sich gedreht, dazu war mir heftig schwindlig und übel“, erinnert sich der 44-Jährige an den Moment, der sein ganzes Leben auf den Kopf stellt. Es geht ihm so schlecht, dass seine Frau den Krankenwagen ruft. Er erinnert sich noch, dass die Sanitäter eine Magen-Darm-Geschichte vermuten, als sie ihn ins Knappschaftskrankenhaus fahren. Sie irren sich, und zwar gewaltig.
„Ich konnte im Krankenhaus nicht sofort in die Röhre, weil ich in einer Tour in eine Nierenschale gekotzt habe“, erinnert sich Holtmannspötter. Aber schließlich gibt es Gewissheit. Diagnose: Schlaganfall. „Ich habe dann eine Woche lang in der Stroke-Unit gelegen, einer Spezialabteilung für Schlaganfall-Patienten. Von dort habe ich aber ein paar Sachen vergessen, an einen solchen Aufenthalt erinnert man sich ja auch nicht gerne.“ Als die Schwindelgefühle schließlich verschwinden, sei das wie eine Befreiung gewesen. Bereits in der Stroke-Unit habe er ein „Schwindeltraining“ bekommen: „Laufen, stehen, das war alles schwer.“ Durch den Schlaganfall ist Holtmannspötters Kleinhirn in Mitleidenschaft gezogen worden – dort sitzt das Gleichgewichtszentrum.
Holtmannspötter war am Boden zerstört – und hat sich aufgerappelt
Schwindelig ist dem Familienvater hin und wieder immer noch. „Aber nur noch selten und dann ganz harmlos“, sagt er. Weil es eine „erworbene Ataxie“ sei, könne er dagegen antrainieren, zumindest ein Stück weit: „Irgendwann war mir bewusst, dass es nicht mehr wird wie früher. Es war wichtig, das zu akzeptieren.“ Während seiner ersten Reha in Dortmund wird Holtmannspötter noch als „unbelehrbar“ bezeichnet. Damals habe er seine Situation einfach noch nicht annehmen können.
Auch seine Karriere muss Holtmannspötter an den Nagel hängen. „Ich war zum Zeitpunkt meines Schlaganfalls Küchenchef im Hotel Best Western in Essen.“ Und wenn es nach seinem Vater Heinz gegangen wäre, hätte er 2019 dessen Gasthof „Aolt Surk“ am Alten Kirchenplatz in Suderwich übernommen. Privat koche er zwar noch, so der 44-Jährige, „aber in der Gastro würde das wegen meiner Hand und meinem Arm nicht mehr funktionieren. Ich wollte ja wieder zurück dorthin, aber den Zahn haben sie mir in der Reha gezogen. Es ist einfach unrealistisch.“ Wie stark ihn seine Ataxie beeinträchtigt, beschreibt er so: „Ich könnte eine Kaffeetasse nicht in die linke Hand nehmen. Sie würde dann vermutlich da drüben im Gebüsch landen.“ Taubheitsgefühle wie andere Schlaganfall-Patienten habe er nicht.
Vom Rollator aufs Lastenfahrrad umgesattelt
Auch das Laufen bereitet dem 44-Jährigen noch sichtlich Probleme. „Die erste Reha habe ich mit einem Stock und einem Rollator verlassen. Einen Rollstuhl wollte ich nicht. Mit einem Rollator unterwegs zu sein, ist schon schwer genug in meinem Alter.“ Seit vier Jahren ist Holtmannspötter nicht mehr Auto gefahren. Ein Stück Freiheit schenkte ihm seine Schwester: ein Lastenfahrrad mit Elektroantrieb und zwei Rädern vorne. Damit fährt der Suderwicher regelmäßig zum Trödelmarkt: „Da war ich immer gerne. Seit Oktober 2020 habe ich mit dem Rad schon 1400 Kilometer zurückgelegt. Manchmal sitzen meine Kinder auch vorne drin.“

Ein Stück Freiheit: Seine Schwester Tina schenkte Christian Holtmannspötter dieses Lastenfahrrad mit Elektroantrieb. Damit hat der 44-jährige Ataxie-Patient schon stolze 1400 Kilometer zurückgelegt. © Tobias Mühlenschulte
Beeindruckend ist auch die Distanz, die der Familienvater seit seinem Schlaganfall beruflich zurückgelegt hat: „Ich fange am 1. Juli bei der Agentur für Arbeit in Recklinghausen an, in der Inkassoabteilung.“ Während des ersten von insgesamt drei Reha-Aufenthalten fragt man Holtmannspötter, ob er denn jetzt in Rente gehen möchte. Er lehnt dankend ab. Und startet durch: Nach zwei Vormaßnahmen macht er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann beim Berufsförderungswerk Dortmund, kommt während des Blockunterrichts in einem Internat vor Ort unter. „Von hier bis nach Dortmund wäre mit meinen Einschränkungen zu dem Zeitpunkt eine Abenteuerreise gewesen“, sagt er. Zu seinem zur Ausbildung gehörenden Praktikum in der Finanzbuchhaltung von Herta in Herten fährt ihn sein Vater. Im Mai besteht Holtmannspötter seine Umschulung.
„Ein Schlaganfall mit 40 ist gar nicht so selten“, sagt er. „Es gibt sogar Babys, die im Mutterleib einen Schlaganfall bekommen.“ Der Suderwicher hat sich umfassend informiert, sich in Gruppen bei Facebook mit anderen Betroffenen ausgetauscht. Und Hoffnung geschöpft. „In den ersten Tagen habe ich nur auf den Boden geschaut.“ Das ist vorbei. Christian Holtmannspötter schaut nach vorn.
Zuhören, beobachten, nachfragen und die Erkenntnisse anschaulich und kurzweilig bei Leserinnen und Lesern abliefern: Das macht guten Journalismus für mich aus. Und das Große im Kleinen zu finden. Aufgewachsen am „Westfälischen Meer“ (Möhnesee), habe ich erste journalistische Erfahrungen in der Soester Börde gesammelt. 2003 dann Umzug ins Ruhrgebiet. Seit 2015 Redakteur beim Medienhaus Bauer, seit März 2021 bei der Recklinghäuser Zeitung. Großes Faible für Filme, Serien, Musik und Belletristik, aber auch fürs Unterwegssein.