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Robert, Luise und ihre fünf Kinder - wie eine Patchworkfamilie ihr Leben meistert
Patchworkfamilien
Robert und Luise haben zusammen fünf Kinder - aber nur eine Tochter gemeinsam. Ihre große Patchworkfamilie funktioniert, weil es klare Regeln gibt - und am Ende wohl doch nur die Liebe zählt.
Irgendwann in einem der gemeinsamen Familienurlaube hielten Paul, Henriette und Nele eine geheime Krisensitzung am Strand ab. Die drei mittleren der fünf Patchwork-Geschwister waren damals 11 und 12 Jahre alt. An diesem Tag hatte es Robert, der Vater der beiden Mädels, nicht mehr ausgehalten: „Wenn ihr Euch weiterhin nur noch streitet, dann wird es diese Urlaube nicht mehr geben.“ Bitterer Ernst. Die Kinder wussten das. Nele und Paul waren seit Jahren wie Feuer und Wasser. Doch an diesem Abend raufte sich das Trio zusammen. Für immer. Alle drei wollten diese Urlaube, ihre Großfamilie behalten. Den Eltern erzählten sie davon nichts.
Es ist das Jahr 2002, als der Zahnarzt Robert, damals 42, die 32-jährige Grundschullehrerin Luise kennenlernt. Luise hat einen fünfjährigen Sohn, Paul. Robert drei Töchter von zwei verschiedenen anderen Frauen: Marie (17), Henriette (8), Nele (5). Die Mädchen leben bei ihren Müttern. Luise und Robert stehen auf den Scherben ihrer einstigen Beziehungen, haben viele Kränkungen erlebt - und wagen dennoch verliebt den großen Sprung ins Neue.
Ihre vier Kinder müssen mitspringen. Auch Paul.
Familien, wie diese
Eine außergwöhnliche Konstellation? „Nein, nein“, sagt Heike Bialk, Leiterin der Beratungsstelle am Hesseweg in Dortmund. Jede vierte Familie, die 2017 ihre Beratungsstelle in Scharnhorst aufsuchte, weist ähnliche Konstellationen auf; 108 Familien waren das. Die Stadt Dortmund unterhält acht städtische Erziehungsberatungsstellen. Bei den Ratsuchenden beträgt der Anteil der zusammengesetzten Familien rund 10 Prozent. 7 bis 13 Prozent aller Familien in Deutschland sind Patchworkfamilien, schätzen die Experten. Genaue Zahlen, so der Monitor Familienforschung des Bundes-Familinministeriums, gibt es nicht.
Die Jüngste zog das große Los
Robert, Luise und Paul ziehen nach Dortmund-Hörde, kurz darauf wird Leah geboren. Die Patchworkfamilie ist komplett. „Für mich war das immer cool“, strahlt die heute 13-Jährige. „Sie hat innerhalb der Familie natürlich auch das große Los gezogen“, sagt Heike Bialk. Beide Eltern stets um sich, dazu einen Haufen toller älterer Geschwister - Leah weiß ihr Glück auch durchaus zu schätzen. „Ich war nie allein und wir haben so viele tolle Dinge gemacht.“
Paul liebt seine kleine Schwester Leah. Und doch hat er ein Problem, fühlt er sich in den nächsten Jahren oft nicht als Teil der Familie. „Ich fühlte mich oft einfach unerwünscht“, sagt er rückblickend.
Ein Wochenende in Ruhe zu Hause hat der heute 21-Jährige in seiner Kindheit nicht erlebt. Entweder ist er bei seinem leiblichen Vater, oder die Mädels fallen ein ins Haus. Hetti und Nele kommen alle 14 Tage, Marie ist mit 17 damals schon zu alt für die gemeinsamen Wochenenende, macht ihr eigenes Ding. Paul streitet viel mit Nele. Die wiederum ist eifersüchtig, vermuten Robert und Luise. „Paul durfte immer bei mir wohnen, Nele nicht. Das hat sie als sie klein war, nicht verstanden“, sagt der Zahnarzt.
Heute gehen Nele und Paul zusammen auf Partys - obwohl die junge Studentin in Wuppertal wohnt, und Paul in Dortmund. Und auch die Urlaube waren seit der einschneidenden Krisensitzung entspannt. „Am Ende hatten wir sogar Angst, dass sich die beiden ineinander verlieben“, lacht Luise.
Wie macht man unterschiedliche Kinder zu Geschwistern?
Robert und Luise geben ihren Kindern nicht viel Zeit, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Waren sich darüber am Anfang auch nicht ganz einig. „Ich wollte es lieber etwas langsamer angehen lassen“, erinnert sich Luise, „doch Robert fand: Jetzt ist es eben so.“ Der Sprung in die neue Patchworkfamilie war für ihre Kinder also ein Sprung ins kalte Wasser. Den einen, richtigen Weg der Zusammenführun gibt es für Heike Bialk allerdings auch gar nicht. „Das hängt wirklich ganz klar von den einzelnen Charakteren ab“, sagt die Expertin. Was dem einen gut tut, ist für den anderen noch lange nicht richtig.
Die größte Herausforderung für die neue Patchworkfamilie aber war: „Wir mussten alle vier beteiligten Familien in die gleiche Schwingung bringen“, sagt Robert. Damit nicht das vollkommene Chaos ausbricht. So ist in Stein gemeißelt: Alle 14 Tage kommen die Mädels. Egal was sonst passiert und ansteht. Der Vater macht den Fahrdienst. „Und wenn Nele in Köln an einem Samstagnachmittag in Köln zu einem Kindergeburtstag musste, dann habe ich sie eben da hingebracht und abgeholt.“ Alle 14 Tage sitzt Robert mehrere Stunden im Auto, um die Mädels hin und her zu fahren. „Aber das hat mir nichts ausgemacht.“ „Fortbildungen und andere Dinge habe ich nur an den anderen Wochenenden gemacht“.
Die gesamte Familie ist an den gemeinsamen Wochenenden viel unterwegs. Wenn Paul Fußball spielte, mussten zwischendurch alle mit auf den Platz. Museen waren nicht so das Ding des einzigen Jungen. „Aber wir waren in wirklich jedem Museum in NRW“, stöhnt der 21-Jährige, „und mindestens 10 mal waren wir in der Dasa“.
„Wäre es mein eigener Sohn, hätte es noch öfter gekracht“
Vor allem in der Pubertät, da rauschen Paul und sein Stiefvater öfter aneinander. Es gibt Momente, da sprengt dieser Konflikt das ganze Familienleben. „Aber wäre es mein eigener Sohn gewesen, hätte es wohl noch stärker und öfter gekracht“, sagt Robert. Er habe sich stets bei Paul zurückgehalten, ganz bewusst nicht die Rolle des Vaters angenommen. Fühlt sich ein Kind da nicht erst recht zurückgesetzt? Kann das richtig sein? „Ja“, sagt Heike Bialk. „Die Rolle der leiblichen Vaters, der leiblichen Mutter ist immer schon besetzt. Die kann man nie übernehmen.“ So ist die Zeit, die der Junge bei seinem leiblichen Vater verbringt, „wo sich alles nur um mich dreht“, in der Rückschau für ihn auch heute eine rein glückliche Zeit. Sein Vater hat zwar eine neue Frau, aber die beiden haben keine weiteren Kinder. „Ich war einmal ganz allein im Mittelpunkt“, erzählt Paul.

Marie, Paul, Leah, Nele und Henriette (v.l.) bei Pauls Abiturfeier. © privat
Am Ende, im Jahr 2018, ist alles gut. Alle Kinder mögen sich, halten zusammen, feiern Arm in Arm Pauls Abitur. Paul versteht sich gut mit Robert, beide grinsen, wenn sie über ihre Zusammenstöße reden. Die große Marie (32) wohnt bei Robert, Luise, Leah und Paul, wenn sie als Bühnenbildnerin in Dortmund zu tun hat. „Ich habe eine zweite Familie geschenkt bekommen“, sagt sie. Ihre leibliche Schwester und ihre beiden Halbschwestern haben sie schon vor fünf Jahren gemeinsam ohne die Eltern in Hamburg besucht - da war Leah gerade 8. Und jedes Jahr Weihnachten feiern alle zusammen Henriettes Geburtstag am 25. Dezember in Bochum bei ihrer Mutter - Großfamilienparty.
Alle vier Familien haben einen guten Draht zueinander
Das Geheimnis dieser Familie: Klare Regeln, eine große Liebe zu den Kindern und eine gute Kommunikation. Alle vier Familien vestehen sich gut, haben trotz gescheiterter Beziehungen der Erwachsenen einen Draht zueinander behalten. „Dafür muss man seine eigenen Kränkungen und Verletzungen hintenanstellen“, sagt Luise. Und auch viele Wünsche. „Aber es ging uns in erster Linie immer nur um das Wohl der Kinder. Der größte Fehler ist, sie zu intstrumentalisieren“, erklärt Robert. Diskrepanzen über Unterhaltszahlungen und andere Dinge gab es auch in dieser Familie - erreichten aber eben niemals die Kinder. Und: „Wir haben uns auch nie in die Erziehung der Kinder eingemischt, die bei dem anderen Elternteil gelebt haben“, sagen die beiden übereinstimmend.
„Die Kommunikation ist ein ganz entscheidener Faktor“, erklärt auch die Familienberaterin Bialk. Ganz schlimm sei es, wenn sich Eltern nur per WhatsApp oder E-Mail über ihre gemeinsamen Kinder unterhalten. „Es braucht das persönliche Gespräch.“ Das könne bei der Übergabe sein, wenn es sich um eine positive Angelegenheit handele, für andere Fälle sollte man sich lieber verabreden - sei es für ein Telefonat oder ein persönliches Gespräch unter vier Augen, rät Heike Bialk dringend an.
Robert und Luise haben in den Augen der Expertin alles richtig gemacht. Regeln aufgestellt, eingehalten und die Liebe zu ihren Kindern über die eigenen Interessen gestellt. Man könnte zum Schluss auch noch von der Art Liebe reden, die überhaupt Kraft und den Mut verleiht, auf den Scherben alter Beziehungen neu aufzubauen und über Jahre eine Patchworkfamilie zu organsieren. Aber das wäre eine andere Geschichte.
Regeln für Patchworkfamilien
- Getrennte Eltern sollten niemals Erziehungsfragen nur per WhatsApp diskutieren, sondern stets das Gespräch miteinander suchen - sei es am Telefon oder Auge in Auge.
- Kinder, die in einer Patchworkfamilie plötzlich neue Geschwister bekommen, sollten ab und zu „Qualitätszeiten“ haben - also Zeiten mit dem leiblichen Elternteil allein. Oft ist dies in der Realität allerdings nur schwer umzusetzen, genau wie bei anderen kinderreichen familien.
- Eltern, bei denen das Kind seinen Lebensmittelpunkt hat, bestimmen die Regeln, die Erziehung und haben die Aufsichtspflicht - sollten aber den anderen bei sehr wichtigen Dingen miteinbeziehen.
- Niemals die Kinder vorschicken, etwa in dem Stil: „Frag mal Papa, ob er morgen früher kommen kann....“ Die Kinder geraten so zwischen die Fronten.
- Streitgespräche und Konflikte mit dem leiblichen Elternteil nicht vor den Kindern austragen
- Rituale neu erfinden: Weihnachten, Feste und andere Dinge müssen neu definiert werden
HILFE FÜR PATCHWORKFAMILIEN
- Die Beratungsstelle am Hesseweg ist eine von vier Erziehungs- und Familien-Beratungsstellen in freier Trägerschaft in Dortmund und wird vom Verein „Erziehungsberatungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Scharnhorst“ getragen. 2017 kamen 108 Patchworkfamilien in die Beratungsstelle, 431 Fälle gab es hier insgesamt. Leiterin ist Heike Bialk. Ratsuchende aus dem Stadtbezirk Scharnhorst (inklusive Hostedde, Husen, Kurl, Derne, Kirchderne, Lanstrop und Grevel) können ohne Voranmeldung die offene Sprechstunde aufsuchen. (Mo-Do 10-12 Uhr, Do 16-18 Uhr) Andere Betroffene müssen sich unter Tel. 0231 / 239083 anmelden.
- Die Stadt Dortmund unterhält acht städtische Erziehungsberatungsstellen. Bei den Ratsuchenden beträgt der Anteil der zusammengesetzten Familien rund 10 Prozent. Einen Überblick über die Beratungsstellen gibt es im Familienportal der Stadt Dortmund.