Deutsch-Syrer Marwan Abazeid (26) will nicht zurück „Das jetzt zu fordern, ist nicht korrekt“

Deutsch-Syrer Marwan Abazeid (26) will nicht zurück
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Marwan Abazeid schläft, als am Sonntag (8.12.) die Nachricht vom Sturz des syrischen Dikators Assad um die Welt geht. „Das ist ja um 5 Uhr morgens passiert“, sagt der 26-jährige Recklinghäuser. Zuvor habe er drei Tage lang rund um die Uhr gebannt die Nachrichten verfolgt – und war am Samstag um 23 Uhr erschöpft eingeschlafen. Nur wenige Stunden später weckt ihn sein Bruder Mohammad (28), mit dem er zusammen im Ostviertel lebt: „Steh auf, Assad ist weg. Syrien ist jetzt frei!“ Es folgt ein Freudentaumel. Jemals in seine Heimat zurückzukehren, kommt für Abazeid allerdings nicht infrage. Erst im Juni hat er seine Ausbildung zum Kaufmann für IT-System-Management bei einem Herner Betrieb beendet, arbeitet jetzt mit einem unbefristeten Vertrag als Sales Account Manager im Vertrieb des Software-Unternehmens. Dass nach dem Assad-Sturz in Deutschland einige fordern, Syrer sollten jetzt in ihre Heimat zurückzukehren, kann er zwar ein Stück weit nachvollziehen. Aber das sei zum aktuellen Zeitpunkt niemandem zuzumuten.

„Assad ist weg, aber in Syrien tobte 14 Jahre lang ein Krieg“, sagt Abazeid, der seit zwei Jahren neben der syrischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit hat. „Es wird noch drei oder vier Jahre dauern, bis Syrien einigermaßen klarkommt. Deutschland war nach dem 2. Weltkrieg auch nicht nach zwei oder drei Monaten so weit.“ In seiner Heimat gäbe es „Rebellen ohne Ende“ auf den Straßen, darunter auch Kinder mit Waffen. Zudem würde es nicht genug Medizin geben. Abazeid: „Zu fordern, dass alle Syrer jetzt verschwinden sollen, ist nicht korrekt.“ Bislang sei das vom Bürgerkrieg gebeutelte Land einfach „Syrien, nur ohne Assad“.

„Was soll ich in Syrien machen?“

Ein Freund von ihm sei aber bereits wenige Tage nach dem Sturz des Diktators in die gemeinsame Heimat geflogen. Aber nicht, um dort zu bleiben. „Mein Bruder sagt auch, dass er wieder nach Syrien ziehen will, sobald es dort sicher ist“, sagt der Recklinghäuser. Das könne jedoch noch dauern und der 26-Jährige will nicht ausschließen, dass sein Bruder dann anders über eine Rückkehr denkt. Für ihn selbst sei das keine Option: „Was soll ich in Syrien machen? Was habe ich dort für eine Zukunft? Ich habe auch keine Power, um noch mal von vorne anzufangen. Ganz egal, welche Chancen sich dort für mich ergeben würden.“

Der Deutsch-Syrer Marwan Abazeid aus Recklinghausen steht mit einer syrischen Rebellenfahne (oben ein grüner Streifen statt eines roten) als Umhang vor einer Weltkarte in der Redaktion der Recklinghäuser Zeitung.
„Es wird drei bis vier Jahre dauern, bis Syrien einigermaßen klarkommt“, sagt Marwan Abazeid. „Deutschland war nach dem 2. Weltkrieg auch nicht nach zwei oder drei Monaten so weit.“ © Tobias Mühlenschulte

Über das Ende des Bürgerkriegs sagt der 26-Jährige: „So schnell hat niemand damit gerechnet. Ich habe immer gedacht, dass erst die nächste Generation das erleben darf.“ Er sei vor Freude über die Nachricht „gestorben“, habe sich vor lauter Glück „wie high“ gefühlt, erklärt Abazeid. Er fährt zur größten Siegesfeier der Region in Essen, feiert dort mit 10.000 anderen Menschen auf der Straße. Im Gepäck hat er die Syrien-Flagge der Rebellen, die oben einen grünen statt eines roten Streifens hat: „Grün für Freiheit. Die Fahne verwenden wir seit 2011, seit Beginn der Revolution.“

Inhaftierte Cousins sind „nie wieder aufgetaucht“

Freunde und Verwandte von ihm seien in Syrien gestorben. „Cousins von mir sind 2012 auf einer Demo gefasst worden und im Gefängnis gelandet. Sie sind nie wieder aufgetaucht.“ Natürlich will der Deutsch-Syrer seine Familie so bald wie möglich besuchen: seine Eltern, seine Schwester und ihr Kinder, Oma, Opa, Onkel, Tanten. „Meine Mutter hat mir am Telefon gesagt: ,Ich will dich in meine Arme nehmen, aber warte noch.‘“

Das ist aber noch nicht alles, erklärt der Recklinghäuser, der 2013 als 14-Jähriger schwerverletzt nach Deutschland kam: „Ich habe hier Leute, die mich lieben, die mich an ihrer Seite haben wollen. Ich habe einen Job, Sicherheit, Gesundheit – was will ich mehr?“ Landsleute, die ähnlich situiert seien wie er, „werden auch nicht auf diese Idee kommen“. Aber es gäbe viele, die hier nicht Fuß gefasst hätten. Und für diese sei eine Rückkehr durchaus eine Option. Ihm persönlich habe noch niemand gesagt, dass er ja jetzt zurück könne, sagt Abazeid. „Das ist bestimmt schon einigen Syrern so passiert, aber die Menschen in meinem Umfeld haben ein Herz.“

Von links nach rechts: Das Ehepaar Norbert und Angelika Schildgen steht mit dem Deutsch-Syrer Marwan Abazeid in der Fußgängerzone in der Innenstadt von Recklinghausen unter aufgespannten Lampions.
Zu Norbert und Angelika Schildgen hat Marwan Abazeid seit Jahren ein enges familiäres Verhältnis. Das Ehepaar lernte der Geflüchtete 2016 über die Caritas kennen. Vor anderthalb Monaten schließlich adoptierte es ihn. © Tobias Mühlenschulteä

„Ich heule, wenn Deutschland verliert“

Das Ehepaar Norbert und Angelika Schildgen, das Abazeid 2016 über die Caritas kennenlernte und das ihn unter seine Fittiche nahm, hat den 26-Jährigen vor zwei Monaten adoptiert: „Bei einer starken Adoption vergisst man seine leiblichen Eltern, während man bei einer schwachen Adoption zusätzlich zu den leiblichen neue Eltern bekommt. Ich habe natürlich die schwache Adoption gewählt, da ich niemals auf meine Eltern verzichten werde.“ Marwan Abazeid ist also auf mehreren Ebenen integriert. Er sagt: „Ich habe nicht nur zwei Eltern, sondern auch zwei Länder. Ich heule, wenn Deutschland gegen Frankreich spielt und verliert, das ist wirklich so.“