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Haus fast leer gezogen: Hildegard Pokolm (89) soll umziehen – aber wohin?
Mit Video: Großer Neubau geplant
Hildegard Pokolm lebt seit 1954 in ihrer Zweizimmerwohnung in Süd. Jetzt soll sie mit 89 Jahren ausziehen, wegen eines Neubauprojekts. Aber wohin? Die meisten Nachbarn sind schon weg.
Damals, vor 68 Jahren, waren die Mehrfamilienhäuser an der Hochlarmarkstraße im Recklinghäuser Süden schicke Neubauten. Gerade 21 Jahre jung, zog Hildegard Pokolm mit ihrem Mann Siegfried ein, voller Stolz auf die eigenen vier Wände. Das Paar hatte sich beim Tanzen kennengelernt, in einem Lokal nur ein paar Meter weiter an derselben Straße.
Siegfried ist schon seit Jahren tot – so wie die gemeinsame Tochter. Und bald soll auch das Haus verschwinden, in dem die Süderin die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hat. Die städtische Wohnungsgesellschaft möchte den in die Jahre gekommenen Bestand abreißen und durch einen Neubau mit 59 Wohneinheiten ersetzen. Ihre Bleibe wurde bereits vor Monaten zum 1. Januar gekündigt. Hildegard Pokolm ist nur noch auf Abruf in ihrem Reich aus Hochflorteppichen und altdeutscher Wohnwand.
Früher saßen die Nachbarn draußen zusammen
Der Weg zu ihrem Haus führt vorbei an zugeklebten Briefkästen. Die Seniorin wohnt im ersten Stock. Bis zu ihrer Wohnungstür sind einige Stufen zu bewältigen. Der Nachbar von unten ist schon weg, verzogen nach Hochlarmark. Hildegard Pokolm sitzt am Küchentisch. Ihre Gedanken kreisen um die Vergangenheit: „Mensch, das war hier ein schönes Wohnen. Wir saßen mit den Nachbarn oft draußen zusammen.“ Dass sie ihren Lebensmittelpunkt nach 68 Jahren verlassen soll, stimmt sie traurig. Hildegard Pokolm glaubt: „Die hätten hier früher mal renovieren sollen. Jetzt ist es zu spät.“

Seit fast sieben Jahrzehnten kocht die Süderin in ihrer kleinen Küche. © Jörg Gutzeit
Die – das sind die Mitarbeiter der Wohnungsgesellschaft Recklinghausen (WG). Die städtische Tochtergesellschaft ist Eigentümerin der Anfang der 1950er-Jahre fertiggestellten Häuser. Für WG-Geschäftsführer Marc-Oliver Fichter macht eine Sanierung des Bestandes keinen Sinn: „Diese Häuser hatten ihre Zeit.“ Geplant sei nun ein dreieinhalbgeschossiger Komplex mit 59 Wohneinheiten, ganz ähnlich dem gleich nebenan an der Jägerstraße. Den hatte die Wohnungsgesellschaft vor einigen Jahren errichtet.
In beiden Bauabschnitten investiert die Wohnungsgesellschaft nach eigenen Angaben insgesamt mehr als 16 Millionen Euro für den Bau von insgesamt 101 Wohnungen. Die 42 Wohneinheiten des ersten Bauabschnittes sind allesamt öffentlich gefördert. Im zweiten Bauabschnitt soll es einen Mix geben aus Wohnungen mit und ohne Sozialbindung. Marc-Oliver Fichter: „Am Ende werden insgesamt 77 Wohnungen öffentlich gefördert sein.“ Der Geschäftsführer rechnet mit einer Bauzeit von rund zwei Jahren. Wohl erst Mitte 2024 würden die Mieter einziehen.
Wo Hildegard Pokolm dann lebt, steht noch in den Sternen. Vier alternative Wohnungen hat ihr die Wohnungsgesellschaft bereits angeboten, darunter seniorengerechte Wohnungen am Bertrandishof in Grullbad und an der Behringstraße. Etwas Brauchbares sei nicht darunter gewesen, sagt Hildegard Pokolms Enkel Marco Meyer. Er habe selbst Wohnungen für seine Großmutter gesucht, vor allem online. Sein Fazit: „Viele Vermieter möchten keine alten Leute. Vielleicht haben sie Angst, dass sie sich in Kürze schon wieder neue Mieter suchen müssen.“
Einkaufen geht sie noch selbst
Hildegard Pokolm reagiert auf ihre ganz eigene Art: „Noch bin ich nicht scheintot.“ Im April wird sie 90 Jahre alt. Am liebsten möchte die alte Dame ganz in der Nähe wohnen bleiben. Nah an ihren Ärzten und nah an all den Leuten, die sie beim Gang zum Einkaufen trifft. Ihr Enkel besorgt ihr nur die „schweren Sachen“. Auf den Gang an der frischen Luft will die Süderin nicht verzichten: „Wenn ich nur in der Wohnung sitze, werde ich ja noch verrückt.“
Marc-Oliver Fichter von der Wohnungsgesellschaft setzt auf eine einvernehmliche Lösung. Zwei weitere Wohnungen habe er schon herausgesucht, die er Hildegard Pokolm anbieten möchte. Und weiter: „Wir zahlen auch einen Zuschuss zu den Umzugskosten.“
Ist davon überzeugt, dass das Leben selbst die besten und bewegendsten Geschichten liefert. Man müsse nur aufmerksam zuhören, beobachten und die richtigen Fragen stellen. Glaubt immer noch, dass es eine gute Idee ist, jenseits der 40 Handball zu spielen. Ist in der Region gerne mit dem Rad unterwegs. Dortmunder Junge, verheiratet, Vater von zwei Söhnen.