Rechte für Bahn-Kunden werden beschnitten Neues Chaos absehbar, Minister schaut tatenlos zu

Rechte für Bahn-Kunden werden beschnitten: Neues Chaos absehbar, Minister Wissing schaut tatenlos zu
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Ulrich Breulmann

Schlimmer geht’s nimmer? Doch, wenn’s ums Bahnfahren geht, ist alles möglich. Jetzt werden auch noch die Rechte gekürzt, mit denen Bahnkunden nach massiven Verspätungen oder Zugausfällen bislang wenigstens eine Entschädigung erhalten.

2022 beantragten 3,8 Millionen verärgerte Bahnkunden eine solche Entschädigung. 92,7 Millionen Euro musste die Bahn an sie auszahlen. Im Fernverkehr der Bahn hatte 2022 jeder dritte Zug eine Verspätung von mehr als sechs Minuten. Ein katastrophaler Wert.

Wie die Bahn ihre Kunden vergrault, ein Beispiel

Was das für Bahnreisende konkret bedeutet, dazu ein aktuelles Beispiel vom vergangenen Sonntag (21. Mai). Da will ein junger Mann aus dem Münsterland nach München fahren. Von Münster aus gibt es einen ICE, mit dem man ohne Umstieg in 6:24 Stunden in München ist. Den hat er gebucht. Der Regionalzug aus Emden wird ihn, so sieht er in der Bahn-App, pünktlich zu seinem ICE nach Münster bringen.

Der Regionalzug fährt ab, die Bahn-App verspricht noch immer pünktliches Ankommen in Münster. Eine Station vor Münster stoppt der Zug. Eine Baustelle sei der Grund, heißt es. Baustelle? Davon stand nichts in der App. Es dauert fast eine Stunde. Der junge Mann verpasst den ICE, muss in Münster einen anderen, proppevollen Zug nehmen. Der ist gerade 100 Meter aus dem Bahnhof raus, da kommt der Hinweis: Dieser Zug müsse eine Umleitung fahren. 40 Minuten Verspätung inklusive.

In Mannheim muss der Mann aus dem Münsterland umsteigen. Als er in den Bahnhof einfährt, sieht er – gemeinsam mit vielen anderen, die ebenfalls umsteigen müssen – am selben Gleis gegenüber den Zug stehen, den er nehmen muss. Exakt in dem Moment, als sein Zug zum Stehen kommt, fährt der andere ab. Provozierender geht’s nicht. Wieder eine Stunde warten. In Augsburg gibt’s die nächste Störung. Am Ende hat die Fahrt nicht 6:24 Stunden, sondern rund dreieinhalb Stunden länger gedauert.

Bahn-Chef kassiert 970.000 Euro Grundgehalt und will einen Bonus von 1,3 Millionen. Wofür?

Wenn sich in solchen Momenten ein Verantwortlicher am Bahnsteig blicken lassen würde – man müsste um sein Leben fürchten. Zum Beispiel Bahn-Chef Richard Lutz. Der hat 2022 ein Grundgehalt von 970.000 Euro bezogen. Außerdem sollte er einen Bonus von 1,26 Millionen Euro erhalten. Bonus? Für was? Für miserable Leistungen? Für unterirdische Kunden-Kommunikation? Für eine Hinweis-App, die etwa so verlässlich ist wie das Wetter im April?

Zum Glück hat der Aufsichtsrat der Bahn den Bonus für Bahn-Chef Lutz Ende April vorerst gestoppt, wegen des erbärmlichen Zustands der Bahn. Aber eben bislang nur „vorerst“.

Was Bahnkunden erleben müssen, ist zum Verzweifeln. Und dabei ist es doch das erklärte Ziel der Bundesregierung, die Menschen zum Umstieg vom Auto auf die Bahn zu bewegen. Müsste da nicht der oberste Vorkämpfer für die Bahnkunden der Verkehrsminister sein?

Okay, das geht jetzt gerade nicht, da Volker Wissing (FDP) mehr damit beschäftigt ist, gegen ein Tempolimit auf Autobahnen und gegen das europaweit längst beschlossene Aus für Verbrenner-Motoren zu agieren. Außerdem muss er viele neue Straßen bauen. Da bleibt keine Luft, sich mit ganzer Kraft um den täglichen Bahn-Horror zu kümmern. Das muss man doch verstehen, oder? Ich sage: Nein, muss ich nicht, kann ich nicht und werde ich nicht.

Wann ist Wetter „extrem“, wann eine Gesundheitskrise „schwer“?

Und jetzt tritt also diese neue EU-Verordnung in Kraft. Bisher spielte der Grund für eine Verspätung oder einen Zugausfall keine Rolle. Ab 7. Juni aber sehr wohl. Dann muss die Bahn bei Verspätungen oder Zugausfällen Kunden nicht mehr entschädigen, wenn „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen.

Das kann etwa „extremes Wetter“ sein, steht in der Verordnung. Was aber ist „extrem“? Bahnfahrer wissen, wie das so ist bei der Bahn: Ein Hauch von Raureif, leichtes Schneegrieseln oder feuchtes Laub auf den Schienen genügen zuweilen ebenso wie eine steife Brise oder die Hitze eines normalen Sommertags, damit es Verspätungen und Ausfälle hagelt. Wer entscheidet, wann Wetter „extrem“ ist?

Oder: Auch eine „schwere Gesundheitskrise“ kann künftig ein Grund sein, Entschädigungen zu verweigern. Was aber ist eine „schwere Gesundheitskrise“? Zählt die alljährliche Grippewelle dazu? Muss es überhaupt eine bundesweite Krise sein? Oder genügt es, wenn sich die Belegschaft einer Bahnstation bei einer Betriebsfeier den Magen verdorben hat und keinen Zug fahren kann? Wäre ja auch eine schwere, wenn auch lokale Gesundheitskrise?

Diese neue Gummiverordnung wird für nichts anderes gut sein als für gewaltigen Ärger und nicht endende Streitereien. Beschwerde- und Schiedsstellen werden überrannt werden. Die mit deutlich wichtigeren Fragen ohnehin überlasteten Gerichte werden sich vor Klagen nicht retten können. Da kann man nur fassungslos mit dem Kopf schütteln: Wer kann nur eine solch völlig weltfremde Regelung ersinnen? Zumindest niemand, der jemals das zweifelhafte Vergnügen einer verkorksten Bahnfahrt genossen hat.

Der Bund könnte verbraucherfeindlichen Passus streichen, aber...

Nun handelt es sich um eine EU-Verordnung, aber: Zum Glück legt die Verordnung nur einen Mindeststandard fest. Sie erlaubt ausdrücklich, dass jedes Land seine Verbraucherinnen und Verbraucher besser stellen darf. Deutschland könnte also beschließen: „Die Bahn ist bei uns eh ein Chaos-Laden, da haben wir keine Zeit, uns mit verärgerten Kunden zu streiten, ob etwas ein ,außergewöhnlicher Umstand‘ war oder nicht. Deshalb spielt bei uns der Grund für eine Verspätung oder einen Zugausfall weiterhin keine Rolle, eine Entschädigung gibt es in jedem Fall.“

Ja, das könnte man so machen. Am besten wäre es, wenn der zuständige Minister seine Kolleginnen und Kollegen in der Bundesregierung dazu bringen würde, diesen verbraucherfeindlichen Passus in der neuen Verordnung für Deutschland zu streichen. Wer ist da noch mal zuständig? Ach ja, Verkehrsminister Volker Wissing. Okay, dann wird das nichts.

Wir müssen uns damit abfinden: Die Horror-Geschichte der Bahn wird fortgesetzt.

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