Knapp sieben Grad. Mehr zeigt das Thermometer morgens nicht mehr an. Die Kälte bedeutet für Obdachlose eine reale Gefahr. Doch ist es nicht immer einfach, ihnen zu helfen, wie ein Fall in Unna zeigt.

Unna

, 27.09.2018, 05:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Sieben Grad. Es sind Temperaturen, bei denen das Übernachten unter freiem Himmel zu einer Gesundheitsgefahr wird. Dennoch lebt eine Frau am Westfriedhof in Unna auf einer improvisierten Schlafstelle am Friedhofszaun – und lehnt jede Hilfe ab.

Die Plastikplane ist nicht zu übersehen: Wer am Beethovenring entlang fährt oder geht, wer den Weg über den Westfriedhof als Abkürzung in die Innenstadt in Unna nimmt, dem fällt sie zwangsläufig auf, die zusammengebastelte Zeltkonstruktion rechts neben dem Eingang zum Westfriedhof. Passanten bleiben stehen, gucken irritiert, einige gehen auf die Zeltplane zu, manche suchen das Gespräch mit der Frau, die dort hinter lebt.

So auch unser Leser Hans Stellmacher. Nach dem Gespräch mit der Frau habe er den Eindruck gewonnen, dass sie psychisch krank sei. Seine Sorge: Sie lebt draußen, bekommt keine Hilfe und erkennt auch die Gefahr nicht, in der sie sich befindet. „Wenn es jetzt kälter wird nachts, dann ist diese Frau in einer Woche tot“, ist er überzeugt. Nun fragt er sich und die Öffentlichkeit: „Kann das sein, dass ein Mensch offenbar krank ist und sich deswegen niemand kümmert, auch keine Behörde?“

Auf einen Gesprächsversuch seitens unserer Redaktion reagiert die Frau ablehnend. Ihr gehe es gut, sie brauche keine Hilfe, sagt sie und dreht sich dann demonstrativ weg. Einem Foto von ihrer Wohnstätte stimmt sie bei einem weiteren Gesprächsversuch zu.

Der Fall im Sommer 2017

Mann lebte fast sechs Monate im Auto in der Innenstadt von Unna

Für ähnlich besorgte Hinweise an die Polizei und die Stadtverwaltung sorgte im vergangenen Jahr ein Mann, der über mehrere Monate in seinem Auto lebte, das er an einer Straße in der Innenstadt abgestellt hatte. Durch das Auseinanderbrechen seiner Partnerschaft und verschiedene unglückliche Umstände hatte er seine ursprüngliche Wohnung räumen müssen (wir berichteten). Seitdem sah er sich in einem Teufelskreis ohne Ausweg: Als Arbeitsloser mit Schufa-Eintrag war er auf dem angespannten Wohnungsmarkt im Raum Unna chancenlos, als Wohnungsloser wiederum konnte er keine neue Arbeitsstelle finden. Der Mann hatte es immer abgelehnt, in eine Übernachtungsstelle für Wohnungslose zu gehen. Ende September fand er letztlich eine Wohnung und zeigte sich zuversichtlich, sein Leben wieder in geregelte Bahnen lenken zu können.

Tatsächlich kümmern sich viele Menschen um den akuten Fall, wie unsere Recherche ergibt. Ina Semleit beschäftigt die Situation am Westfriedhof schon lange. Die Leiterin des Bereichs Friedhofswesen bei den Stadtbetrieben hat bereits mehrere Beschwerden von Friedhofsbesuchern dazu erhalten. „Viele Besucher des Friedhofs fühlen sich durch die Frau gestört, einige sagten auch, dass sie von ihr angesprochen wurden. Gerade, wenn eine Beerdigung stattfindet, ist das natürlich sehr störend“, sagt Semleit.

Selbst die Amtsärztin war schon vor Ort

Das Gelände, auf dem die Frau „wohnt“, gehört rechtlich gesehen zum Westfriedhof, die Friedhofsverwaltung kann sie also von dort verweisen. Genau das habe man bereits mehrfach getan, nachdem die Beschwerden eingegangen waren, sagt Semleit. „Doch das ist immer nur von kurzer Dauer gewesen, da sie irgendwann wieder kam.“ Dass die Frau offensichtlich psychische Probleme habe, habe sie auch gemerkt. Deswegen sei man auch mit der Amtsärztin und dem Ordnungsdienst vor Ort gewesen, um ihr Hilfe anzubieten. „Aber auch das brachte keinen Erfolg“, sagt Semleit.

Auch die Stadtverwaltung bestätigt auf Anfrage, dass man mit dem Fall vertraut sei. „Wir haben der Frau alle Hilfsangebote gemacht, die wir als Stadt machen können“, sagt Stadtsprecher Christoph Ueberfeld. Dazu zählen unter anderem Hinweise auf Übernachtungsstellen für Wohnungslose, die es im Stadtgebiet gibt. Doch alle Angebote seien „kategorisch abgelehnt“ worden, so Ueberfeld. „Wir können ihr nichts aufzwingen, werden sie aber natürlich weiterhin im Auge behalten, vor allem jetzt, wenn es kälter wird.“

Hilfe bei psychischen Erkrankungen

Landesgesetz regelt die mögliche Unterbringung in Therapie-Einrichtungen

Theoretisch könnte jemand, der psychisch erkrankt ist, sich in einer Notsituation befindet, dies aber nicht selbst erkennt, in einer Therapie-Einrichtung untergebracht werden. Diese Maßnahme unterliegt jedoch hohen rechtlichen Auflagen und wurde immer wieder novelliert. Dabei steht die Selbstbestimmung des Betroffenen ebenso im Fokus wie die kleinstmögliche Einschränkung der Freiheit. In Nordrhein-Westfalen regelt das „Gesetzt über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten“, kur „PsychKG“, dieses Vorgehen.

Auch die Caritas kennt den Fall der wohnungslosen Frau, bestätigt, dass es bereits Kontakt zu ihr gegeben habe. Doch auch diese Hilfsangebote habe die Frau abgelehnt.

Vor allem eine langfristige Lösung scheint schwierig, wie Polizeipressesprecher Thomas Röwekamp im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt. „Wir können natürlich jemanden eines Ortes verweisen, wo jemand anderes Hausrecht hat, wie es im Falle des Westfriedhofs die Stadtbetriebe sind“, sagt Röwekamp, „doch wir können nicht sagen: Wir verweisen sie jetzt für ein ganzes Jahr.“ Das sogenannte „Betretungsrecht“ für einen Ort könne die Polizei nur aussprechen, wenn die rechtlichen Voraussetzungen dafür vorlägen. Röwekamp nennt ein Beispiel: „Wenn jemand wiederholt auf der Kirmes straffällig geworden ist, weil er dort Leute angepöbelt, bedroht oder angegriffen hat, dann können wir ihm ein Betretungsverbot für die Kirmes erteilen.“

Im Fall einer obdachlosen Frau, die nichts anders macht, als im öffentlichen Raum zu „wohnen“, seien der Polizei hingegen die Hände gebunden. „So lange sie nicht straffällig wird oder von sich aus sagt, dass sie Hilfe braucht und in eine Notunterkunft möchte, können wir sie auch nicht einfach ins Auto setzen und wegbringen, wie sich das vielleicht mancher vorstellt“, wird Röwekamp deutlich.

Im Eingangsbereich des Westfriedhofes vom Beethovenring aus hat die Frau ihr Übernachtungslager aufgeschlagen.

Im Eingangsbereich des Westfriedhofes vom Beethovenring aus hat die Frau ihr Übernachtungslager aufgeschlagen. © UDO HENNES