
© Foto: unplash/ Vladimir Fedotov
Neuer Corona-Maßstab: Massive Zweifel an der Hospitalisierungs-Inzidenz
Coronavirus
Seit 15. September gilt ein neues Infektionsschutzgesetz. Neuer Corona-Maßstab ist die Lage in den Kliniken. Doch es gibt massive Zweifel an den Daten – und eine Hintertür für neue Grenzwerte.
Mit den in den vergangenen Tagen beschlossenen Änderungen am Infektionsschutzgesetz wollten Bund und Länder vor allem eines erreichen: Es sollte nicht mehr ausschließlich die Zahl neuer Corona-Fälle über Einschränkungen oder Lockerungen in der Corona-Pandemie entscheiden. Stattdessen sollte vor allem berücksichtigt werden, wie sehr unser Gesundheitssystem durch Covid-19-Erkrankungen belastet wird.
Das klingt, da waren sich alle einig, vernünftig, denn inzwischen gibt es seit vielen Monaten mit den Impfungen einen wirksamen Schutz gegen Infektionen beziehungsweise zumindest gegen schwere Verläufe. Daher sollte nicht mehr die reine Sieben-Tage-Inzidenz (Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen) der Maßstab des Handelns sein, sondern die Hospitalisierungsinzidenz.
Der entscheidende Satz im neuen Gesetz
Im neuen Paragraf 28a des Infektionsschutzgesetzes wird diese Hospitalisierungsinzidenz so erklärt: „Wesentlicher Maßstab für die weitergehenden Schutzmaßnahmen ist insbesondere die Anzahl der in Bezug auf die Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) in ein Krankenhaus aufgenommenen Personen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen.“
Das klingt einleuchtend und verständlich, allerdings hat die Sache einen Haken, worauf in den vergangenen Tagen zuerst die ZEIT und dann auch der SPIEGEL aufmerksam machten. Denn es ist keineswegs so wie zu vermuten wäre, dass in diese Inzidenz wirklich alle Corona-Kranken einberechnet werden, die in den vergangenen sieben Tagen in ein Krankenhaus eingeliefert wurden, sondern: Erfasst werden nur die eingelieferten Covid-19-Patienten, deren Infektion ebenfalls innerhalb der vergangenen sieben Tage dem Gesundheitsamt gemeldet wurden. Das heißt: Für das Robert-Koch-Institut ist das Meldedatum entscheidend, nicht das Einlieferungsdatum ins Krankenhaus.
Die Lücke zwischen Meldung und Klinik-Einweisung
Da aber zwischen dem Zeitpunkt des Feststellens einer Corona-Infektion und der Einweisung in ein Krankenhaus im Schnitt mindestens vier, oft aber noch mehr Tage vergehen, tauchen zahlreiche Corona-Kranke in der aktuellen Hospitalisierungs-Inzidenz nicht auf, weil Meldung ihrer Erkrankung und Klinik-Einweisung nicht innerhalb derselben sieben Tage erfolgten.
Nun könnte man das alles für eine Spitzfindigkeit von Rechenkünstlern halten. Das aber ist es ganz und gar nicht, wie ein einfaches Beispiel zeigt. Im Situationsbericht vom Dienstag (14. September) nennt das RKI eine Hospitalisierungs-Inzidenz von 1,86. Das wären also, sollte man meinen, in den vergangenen sieben Tagen 1,86 Einweisungen von Corona-Erkrankten pro 100.000 Einwohner in eine Klinik.
Das aber ist so nicht korrekt, wie sich anhand der eigenen RKI-Daten leicht überprüfen lässt, denn: Neben der Hospitalisierungsinzidenz weist der montags bis freitags erscheinende Situationsbericht des RKI auch die reine Zahl der mit einer Corona-Infektion in eine Klinik eingelieferten Menschen aus.
Die tatsächlichen Zahlen sind eigentlich bekannt und sie sind höher
Rechnet man diese Zahlen für die Zeit von Mittwoch (8. September) bis Dienstag (14. September) zusammen, kommt man auf 2.978 neue Covd-19-Patientinnen und Patienten in deutschen Kliniken. Bezogen auf 100.000 Einwohner bedeutet das eine Hospitalisierungs-Inzidenz von 3,6 – also doppelt so hoch wie der vom RKI angegebene Wert.
Bisher sieht, wie der SPIEGEL berichtet, das RKI keine Notwendigkeit zur Korrektur dieser Daten. Vielleicht hat das sogar eine gewisse Berechtigung, denn: Eine Zahl an sich bedeutet zunächst einmal nichts. Entscheidender ist, was ab einer bestimmten Höhe passiert. Und wenn die Zahl bisher immer zu niedrig war, kann man trotzdem im Vergleich erkennen, ab wann es kritisch wird.
Als es in den Krankenhäusern rund um Weihnachten vergangenen Jahres wirklich eng wurde, lag die (wohl auch damals zu niedrig berechnete) Hospitalisierungs-Inzidenz bei 15,79. Im Vergleich dazu ist der aktuell (ebenfalls zu niedrige) Wert von 1,86 noch harmlos. Würden beide Werte doppelt so hoch sein, würde das am Verhältnis zueinander nichts ändern. Allerdings, und das ist dann doch der heikle Punkt: Eine Zuspitzung der Lage in den Kliniken dürfte man anhand der Hospitalisierungs-Inzidenz erst verspätet erkennen. Schnellere Warnsignale sendet da die altbekannte Sieben-Tage-Inzidenz.
Bisher wenig Beachtung fand übrigens ein anderer Passus im neuen Infektionsschutzgesetz. Viele hatten in den vergangenen Wochen gehofft, dass endlich Schluss ist mit den verschiedenen Grenzwerten und Stufen, ab denen bestimmte Maßnahmen verschärft oder gelockert werden. Zuletzt hatte Nordrhein-Westfalen in der vergangenen Woche den letzten Schwellenwert bei einer Inzidenz von 35 gekippt.
Im Gesetz versteckt: Die Möglichkeit für neue Grenzwerte
Doch so ganz können wir uns von möglicherweise ganz neuen Grenzwerten noch nicht verabschieden, denn im neuen Infektionsschutzgesetz wurde eine Hintertür eingebaut. Dort heißt es nämlich: „Die Landesregierungen können im Rahmen der Festlegung der Schutzmaßnahmen unter Berücksichtigung der jeweiligen stationären Versorgungskapazitäten (...) Schwellenwerte für die Indikatoren nach den Sätzen 4 und 5 (gemeint sind: Hospitalisierungs-Inzidenz, Sieben-Tage-Inzidenz; Anteil der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen und Impfquote, Anm. d. Red.) festsetzen; entsprechend können die Schutzmaßnahmen innerhalb eines Landes regional differenziert werden.“
Mit anderen Worten: Je nachdem, wie sich die Lage entwickelt, könnten wir zurückfallen in die Zeit, als wir täglich ängstlich auf die Entwicklung einer Zahl schauten, um zu wissen, ob wir in drei Tagen noch ungestört shoppen oder essen gehen dürfen oder nicht und ob in der Nachbarstadt das gleiche oder anderes gilt. Ob das dann die Sieben-Tage-Inzidenz oder die Hospitalisierungs-Inzidenz wäre, dürfte kaum eine Rolle spielen. Zurück wünscht sich solche neuen Grenzwerte sicherlich niemand.
Ulrich Breulmann, Jahrgang 1962, ist Diplom-Theologe. Nach seinem Volontariat arbeitete er zunächst sechseinhalb Jahre in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten, bevor er als Redaktionsleiter in verschiedenen Städten des Münsterlandes und in Dortmund eingesetzt war. Seit Dezember 2019 ist er als Investigativ-Reporter im Einsatz.
