
Seit gut zwei Jahren ist Boris Pistorius (SPD) Verteidigungsminister. Genauso lange begleitet uns die Frage, ob die 2011 eingefrorene Wehrpflicht wieder aufgetaut werden sollte.
Pistorius lässt keine Gelegenheit aus, um das Thema gefragt oder auch ungefragt anzusprechen. Das riecht nach „Steter-Tropfen-höhlt-den-Stein-Strategie“. Das mag man gut finden oder nicht: Die Frage, wie wir uns zur Wehrpflicht verhalten sollten, ist damit nicht beantwortet. Liegt Pistorius richtig?
Diese Frage ist umso drängender geworden, seit Putin 2022 die Ukraine überfallen hat. Richtig brisant ist das Thema geworden, seit Donald Trump als US-Präsident im Amt ist. Er kuschelt mit Putin, lässt die Ukraine hängen und macht dem Rest von Europa klar: Verteidigt euch doch selbst.
Daher erneut die Frage: Brauchen wir eine neue Wehrpflicht? Eine Annäherung in fünf Punkten:
1. Beim Wehrdienst geht es nicht um einen Job wie jeden anderen. Hier geht es darum, für eine Aufgabe verpflichtet zu werden, die mich im schlimmsten Fall das Leben kosten könnte. Das ist ein höchst sensibles Terrain, bei dem sich jedes leichtfertige Gerede verbietet.
Die Wehrpflicht ist eine mit nichts zu vergleichende, risikobehaftete Zumutung. Gegenüber dem jungen Mann und der jungen Frau, die den Dienst leisten sollen. Gegenüber deren Eltern, Großeltern und Freunden. In jedem Moment der Diskussion sollte das allen bewusst sein.
Wie die Deutschen über die Wehrpflicht denken
2. In einer aktuellen, von der WELT in Auftrag gegebenen Umfrage sprechen sich Anfang März 2025 58 Prozent der Deutschen für eine Wehrpflicht aus, allerdings lehnen 61 Prozent der 18- bis 29-Jährigen, die im Zweifel eingezogen würden, eine Wehrpflicht ab. Grundsätzlich steigt die Zustimmung zur Wiedereinführung der Wehrpflicht mit dem Alter.
Vor einem Jahr veröffentlichte der Stern eine Forsa-Umfrage. Danach sprechen sich 52 Prozent für eine Wehrpflicht aus, 43 Prozent dagegen.
Vor zwei Jahren Jahr gab es eine gleichlautende Civey-Umfrage. Da lag die Zustimmung zur Wehrpflicht bei 57 Prozent, die Ablehnung bei 36 Prozent. Die Zahl der Befürworter schwankt also durchaus konstant, aber ist eine mal mehr oder weniger große Mehrheit für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht. Das liegt vielleicht daran, dass die gefühlte Gefahr für uns alle stark gewachsen ist. Und mit ihr die Angst.
Die geänderte Weltlage: Wir sind selbst verantwortlich
3. In den 1980-er Jahren, als ich meinen Grundwehrdienst absolvierte, kursierte ein geflügeltes Wort: „Die Bundeswehr ist dazu da, den Feind an der Grenze so lange aufzuhalten, bis Militär kommt.“
Das war mitten im Kalten Krieg eine überspitzte Formulierung voller Selbstironie. Hinter ihr verbarg sich aber eine tiefe Überzeugung: Kommt es zum Ernstfall, werden uns die USA zur Hilfe eilen.
Dieses seinerzeit von niemandem hinterfragte Vertrauen in den „großen Bruder USA“ ist spätestens mit dem Amtsantritt von Donald Trump 2017 brüchig geworden und mit dem Beginn seiner zweiten Amtszeit im Januar 2025 völlig zerstört. Aus Freunden sind im besten Fall Fremde, im schlimmsten Fall Feinde geworden. Klar ist: Europa muss sichselbst um seine Verteidigung kümmern.
Dabei geht es nicht nur um Waffen und anderes Material. Es geht auch, wie das Bürokraten gerne ausdrücken, wenn sie um den heißen Brei herumreden, um „human ressources“ oder „manpower“. Auf Deutsch: Wir brauchen mehr Soldaten.
1990 zählte die Bundeswehr 458.752 Soldatinnen und Soldaten, darunter 188.697 Wehrpflichtige. Heute sind es 181.174 Soldatinnen und Soldaten (Stand: Dezember 2024). Bis 2031 soll ihre Zahl im ersten Schritt auf 203.000 wachsen. Wie das geschehen könnte, ist schleierhaft, denn die Bundeswehr schafft es derzeit nicht einmal, ihre alte Soll-Stärke zu halten.
Das Beispiel Schweden als Vorbild
Überarbeitete Version
Dieser Kommentar ist eine aktuell am 11. März 2025 vom Autor überarbeitete Version eines Kommentars, der in seiner Ursprungsversion vor einem Jahr erschienen ist.
4. Ich kenne niemanden, der eine Rückkehr zur alten Wehrpflicht kurzfristig für realistisch hält. Dagegen sprechen schon ganz praktische Erwägungen. Allein die benötigten Kasernen und das erforderliche Ausbildungspersonal stünden in kurzer Frist gar nicht zur Verfügung.
Das weiß auch Verteidigungsminister Pistorius, der daher schon mehrfach Schweden als Vorbild ins Spiel gebracht hat. Dort war die Wehrpflicht 2017 wieder eingeführt worden.
Seither werden alle 18-jährigen Männer und Frauen angeschrieben. Rund 30.000 von ihnen werden zur Musterung ausgewählt. Davon wiederum werden rund 8.000 einberufen. Eine solche Einberufung können die Betroffenen allerdings auch ablehnen. Das heißt: Es handelt sich im Prinzip um eine Musterungspflicht, aber um einen freiwilligen Wehrdienst.
Für mich hat das schwedische Modell Charme. Zum einen bleibt es bei der Freiwilligkeit. Zum anderen aber zwingt es alle jungen Menschen, sich mit dem Thema Bundeswehr wenigstens auseinanderzusetzen. Zugleich verbessert es die Chancen der Verantwortlichen, Nachwuchs anzuwerben, erheblich. Persönliche Gespräche im Rahmen der Musterung dürften deutlich erfolgreicher sein als Werbe-Videos auf TikTok oder Hochglanz-Plakate am Bahnhof.
Perspektiven für einen Zivildienst der neuen Art
5. Eine solche Musterung 2.0 für Männer und Frauen ließe sich zudem ergänzen. Neben die verpflichtende Wehrdienst-Beratung könnte eine solche zu zivilem Sozialdienst treten, ebenfalls mit der Bedingung der Freiwilligkeit.
Ungezählte soziale Einrichtungen vermissen bis heute ihre Zivis von einst. Freiwilliges soziales Jahr und Bundesfreiwilligendienst haben die Zivis auch nicht im Ansatz ersetzen können, denn: Solche Stellen muss jeder gezielt selbst suchen. Bei einer Pflicht-Beratung für einen sozialen Dienst als Teil der Musterung wäre das anders: Viele junge Leute würden erstmals mit dieser Idee konfrontiert, wären alleine nie auch nur auf den Gedanken gekommen.
Eine solche Doppel-Musterung könnte zum Erfolgsmodell werden - für die Bundeswehr und viele soziale Einrichtungen.