Rollstuhlfahrerin (48) hilflos vor kaputtem Aufzug „Am Bahnhof ist man verloren“

Mit der Bahn im Rollstuhl zur Arbeit: „Da ist man ganz oft verloren“
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Inga S. (Name geändert) überkommt ein Gefühl, in dem sich Wut und Verzweiflung mischen. Nicht zum ersten Mal steht sie im Bahnhof Kamen am Fuße der Treppe zum Mittelbahnsteig, weil der Aufzug defekt ist. Sie ist hilflos, weil sie im Rollstuhl sitzt. Für sie wäre jetzt Endstation, bevor sie den Zug überhaupt genutzt hat. Falls sie in den nächsten Minuten nicht noch zwei, drei Leute findet, die sie die Treppe hochtragen. „Wenn man auf die Bahn angewiesen ist, wie ich, dann ist man verloren“, sagt die 48-jährige Kamenerin desillusioniert.

Sie ist der Redaktion bekannt, möchte nicht öffentlich genannt werden. Aber sie will auf die für sie und andere gehbehinderte Menschen unhaltbare Situation hinweisen. Zum x-ten Mal sind jetzt die Aufzüge ausgefallen, bevor sie ebenso zum x-ten Mal repariert wurden. Bahnkunden, die auf die Lifte angewiesen sind, sind verärgert.

Menschen mit Gehbehinderungen fehlt in Kamen immer die Möglichkeit, selbstständig den Bahnsteig zu wechseln. Ursache: Die reparaturanfällige Technik der Aufzüge.
Menschen mit Gehbehinderungen fehlt in Kamen immer die Möglichkeit, selbstständig den Bahnsteig zu wechseln. Ursache: Die reparaturanfällige Technik der Aufzüge. © Carsten Janecke

Keine zuverlässige Information über die App der Bahn

Inga S. fährt an Werktagen, falls möglich, mit dem RE6 täglich zur Arbeit nach Hamm. Dazu muss sie das Gleis 2 auf dem Mittelbahnsteig erreichen. Das ist ihr in vergangener Zeit oftmals nicht gelungen. Aus dem Stegreif zählt sie die Zeiträume auf, in denen die Aufzüge defekt waren oder durch Vandalismus beschädigt wurden. Denn wer hilflos davor steht, vergisst derlei Situation nicht. „Diese Fahrstühle sind sehr anfällig – nicht nur auf dem Bahnhof Kamen, sondern auch in Dortmund, Hamm und anderswo.“

Vor der Fahrt am frühen Morgen informiert sich Inga S. über die entsprechende Bahn-App, ob die Aufzüge funktionieren oder nicht. Ist dort ein Hinweis auf einen Defekt, organisiert sie Hilfe. „Dann habe ich wahnsinnig viel zu leisten – mit Planung und Absprachen.“ Umso ärgerlicher sei es dann, wenn die entsprechende App einen Defekt nicht anzeige, wie bei der jüngsten Störung Anfang September. „Man merkt dann, man kann sich nicht darauf verlassen.“ Und Hilfe hat sie dann nicht.

Der Aufzug zum Mittelbahnsteig am Bahnhof war in den vergangenen Wochen mehrfach defekt. Wer auf ihn angewiesen ist, muss um Hilfe bitten.
Der Aufzug zum Mittelbahnsteig am Bahnhof war in den vergangenen Wochen mehrfach defekt. Wer auf ihn angewiesen ist, muss um Hilfe bitten. © Carsten Janecke

Inga S: Keine Hilfe mehr aus der Radstation möglich

Die Hilfe aus der Awo-Radstation, die früher über das Service-Team „3S“ in Dortmund organisiert wurde, gibt es laut Inga S. nicht mehr. „Ich habe dort noch einmal angerufen und um Hilfe gebeten“, berichtet sie. Diese sei aber eingestellt worden – aus versicherungstechnischen Gründen, wie ihr mitgeteilt wurde.

Eine Rampe zum Mittelbahnsteig, wie der Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe (CDU) gefordert hat, würde ihr helfen, auch wenn die Strecke, die sie zurücklegen müsste, länger wäre. „Man hätte zumindest eine sichere Möglichkeit, den Zug zu erreichen. So ist und bleibt das ein Trauerspiel.“

Vom Trauerspiel zum Katz- und Mausspiel

Ein Trauerspiel, das zuweilen auch zum Katz- und Mausspiel wird. Nicht nur, wenn auch auf anderen Bahnhöfen die Aufzüge nicht funktionieren – und man eine Station weiterfahren muss, um einen Bahnhof mit intakter Infrastruktur zu finden. Sondern auch in Situationen, über die sich Menschen ohne Behinderung vermutlich gar keine Gedanken machen: „Plötzlich wird ein Gleiswechsel für den einfahrenden Zug angesagt. Dann noch schnell wieder hinab in die Unterführung und hinauf zum neuen Gleis? Das schaffe ich so schnell nicht“, sagt die Rollstuhlfahrerin. Oft hat sie deswegen einen Zug verpasst.

Inga S. erinnert an die UN-Behindertenrechtskonvention, die durch die Ratifizierung von Bundestag und Bundesrat im Jahr 2009 zu geltendem deutschen Recht geworden ist. „Die Bahn ist verpflichtet, dieses Recht umzusetzen. Das macht sie ausgesprochen schlecht.“

Spontane Hilfe am Fuße der Treppe

Dabei sei ihr Wunsch eigentlich einfach: „Ich will da rein, zur Arbeit fahren und da wieder raus“, sagt sie. Denn sie arbeite gern und arbeite gut – und trifft im Büro auf Kollegen, die viel Verständnis für ihre Situation haben, auch wenn sie wegen der Bahn zu spät oder dann auch mal gar nicht kommen kann.

Jetzt wirft sie einen Blick nach oben, dort, wo am anderen Ende der Treppe ein einfahrender Zug zu hören ist. Dann hat sie Glück, als drei Passanten ihrer Bitte entsprechen, den Rollstuhl anheben und sie die Treppe hochtragen. Kein Einzelfall, wie sagt. „Die Menschen sind besser als ihr Ruf.“