
Ab und an, das gebietet die Fairness, überprüfe ich, ob ich meine in der Vergangenheit gesammelten üblen Erfahrungen mit der Bahn korrigieren muss. Also, dachte ich mir, sei tapfer und in Zeiten der Energiekrise vorbildlich, lass das Auto stehen und nutz für die Wochenendfahrt von Emsdetten nach München den Zug.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Nein, es gibt nichts zu korrigieren. Um Fahrten mit der Bahn wirklich toll zu finden, muss man schon masochistisch veranlagt sein.
Dabei verläuft die Hinfahrt für Bahn-Verhältnisse noch relativ gut. Für die Anfahrt zum IC in Münster habe ich eigens einen Zug früher von Emsdetten aus genommen als fahrplanmäßig nötig gewesen wäre. Man weiß ja nie. Bevor man den IC verpasst, kann man besser eine halbe Stunde auf dem zugigen Bahnsteig stehen.
Eine gute Idee. Hätte ich den eigentlich vorgesehenen Zug genommen, hätte ich den Anschluss in Münster verpasst. So aber kann ich in den IC steigen, der in Münster eingesetzt wird und daher vorher keine Verspätung einfahren kann.
Keine Heizung und alles dunkel am reservierten Platz
Ich habe einen Sitzplatz reserviert. Wagen und Sitz sind schnell gefunden, aber ups: In dem Wagen läuft keine Heizung und Licht gibt es auch nicht. Kommt noch, denk ich und setzt mich. Kommt aber nicht, stattdessen eine freundliche Bahn-Mitarbeiterin. Nein, der Wagen sei defekt. Da könne und dürfe man nicht sitzen. Es tue ihr leid, das Geld für die Reservierung könne ich mir in einem Reisezentrum wieder holen. Und übrigens: Der Speisewagen fehle dieses Mal.
Wunderbar, denke ich, habe Glück, finde einen anderen freien Sitz, wenn auch nicht an einem Tisch, um wie geplant arbeiten zu können, aber immerhin. Der Rest ist einfach. Mit einer dreiviertel Stunde Verspätung komme ich in München an, verbuche das aufgrund meiner Bahn-Vorerfahrungen als akzeptabel. In Sachen Bahn sind meine Ansprüche im Laufe der Jahre bescheiden geworden.
Schluss mit der Gemütlichkeit am ersten Advent
Die Rückfahrt am Sonntag ist dann schon etwas, das sich freiwillig nur Hardcore-Bahnfans mit Hang zur Selbstkasteiung freiwillig antun werden. Dabei fängt alles ungewohnt reibungslos an. Bis Nürnberg läuft alles prima, nur ein paar Minuten Verspätung, aber ich will nicht kleinlich sein.
Dann ist es allerdings vorbei mit der Gemütlichkeit am ersten Advent. Eine Lautsprecherdurchsage klärt mich auf: Oberleitungsstörung. Der Zug müsse über Ansbach nach Würzburg umgeleitet werden. Verspätung inklusive.
Danach geht es Schlag auf Schlag. Zunächst ist ein ICE irgendwo liegen geblieben, kann nicht mehr weiterfahren. Die Passagiere steigen um in unseren eh schon vollen Zug. Das Ergebnis sind Sardinendosen gleichende Wagen, in denen jeder Gang, jede Lücke belegt ist. Ein- und Aussteigen wird zum Abenteuer, auf dem WC gibt es kein Wasser mehr. An jedem Bahnhof verlängert sich die Verspätung.
Den geplanten Anschluss in Köln-Deutz pünktlich zu bekommen, ist schon 100 Kilometer vorher völlig illusorisch. Auch die nächsten Verbindungen klappen nicht. Der als nächstes erreichbare Zug hat dafür mehr als 20 Minuten Verspätung.
Sagt die Feuerwehr: Löschen geht heute nicht, wir haben zu wenig Leute?
Ich nutze die Zeit, um dem Mann aus dem Lautsprecher im Bahnhof zu lauschen. Der redet in einer Tour, verkündet eine Verspätung nach der anderen. Bei den Gründen variiert er: Mal nennt er eine „Störung im Betriebsablauf“, was immer das heißt, mal das Warten auf einen anderen Zug, mal einen „technischen Defekt am Zug“, mal einen „Notfalleinsatz“ und auch die Karte vom „Personalengpass“ zieht er.
Beim zuletzt genannten Grund frage ich mich: Was machen eigentlich Krankenhäuser, wenn sich von einer Intensivstation drei Pfleger gleichzeitig krank melden? Werden dann die Patienten mit einem Schulterzucken nach Hause geschickt: „Sorry, Personalmangel“? Oder die Feuerwehr: Löschen geht heute nicht, tut uns Leid? Oder die Polizei: Wir haben heute zu wenig Leute, um den Mord an ihrem Freund kümmern wir uns morgen?
Die Lösung der Bahn ist einfach: Sie lässt ihre Gäste, die die durchaus üppigen Bahnpreise bezahlt haben, einfach auf dem Bahnsteig stehen. Solches Verhalten macht mir die Bahn so richtig sympathisch.
2 Stunden und 13 Minuten Verspätung und in Japan gibt es noch die Todesstrafe
Ich will nicht weiter ins Detail gehen, um mich nicht in Rage zu schreiben. Nur soviel: In völlig überfüllten Zügen erreiche ich auf der Rückfahrt kein einziges Mal die geplanten Anschlüsse. In Emsdetten hat sich die Verspätung auf zwei Stunden und 13 Minuten summiert.
Es ist noch gar nicht lange her, da hat man in Japan einem Zugführer den Lohn gekürzt, weil sein Zug eine einzige (!) Minute Verspätung hatte. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was in Japan mit jemandem passiert, der als Verantwortlicher für 2 Stunden und 13 Minuten Verspätung grade stehen muss. Selbst die Todesstrafe ist in Japan ja noch immer nicht abgeschafft.
Mehr als ein Drittel aller Fernzüge ist unpünktlich
Wie aber kommt es, dass eines der reichsten Länder der Erde ein so miserables, unkomfortables und obendrein chronisch unpünktliches Schienenangebot hat wie Deutschland?
Im Oktober 2022 waren nach Angaben der Deutschen Bahn im Fernverkehr 63,2 Prozent aller Züge pünktlich. Das heißt: 36,8 Prozent – mehr als ein Drittel ergo – waren demnach unpünktlich. Wobei man die Pünktlichkeits-Definition der Bahn berücksichtigen muss. Als unpünktlich gilt ein Zug erst, wenn er mindestens sechs Minuten Verspätung hat. Dabei reichen zuweilen schon fünf Minuten, um einen Anschlusszug zu verpassen und irgendwo im Nirgendwo zu stranden.
Im Jahr 2021 gab Deutschland pro Kopf der Bevölkerung 124 Euro für Investitionen in den Schienenverkehr aus. In einem Vergleich der Datenplattform Statista unter 12 europäischen Ländern bedeutet das Platz 9. Luxemburg (607 Euro), die Schweiz (413 Euro), Norwegen (315 Euro), Österreich (271 Euro), Schweden (253 Euro), Großbritannien (158 Euro), Dänemark (157 Euro) und die Niederlande (147 Euro) geben deutlich mehr, zum Teil sogar ein Vielfaches aus.
Und Besserung ist nicht in Sicht. Zwar steigen in den nächsten Jahren die geplanten Ausgaben für den Schienenverkehr leicht. Es bleibt allerdings bei der seit Jahrzehnten üblichen Reihenfolge: Die Investitionen in Straßen liegen deutlich über denen in den Schienenverkehr. Im laufenden Jahr sind Investitionen von 7,33 Milliarden in den Schienenverkehr, aber 8,22 Milliarden in den Straßenverkehr geplant.
Die Bahn schafft es schon jetzt nicht, ihre Passagiere vernünftig zu bedienen
Das sind extrem ernüchternde Zahlen, zumal es aus zwei Gründen eines der Kernziele jeder halbwegs gescheiten Bundesregierung im Jahr 2022 sein müsste, mehr Menschen zum Umstieg vom Auto auf die Schiene zu bewegen.
Zum einen würde das in Zeiten der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Energiekrise dafür sorgen, dass kostbare Energie gespart würde. Zum anderen würde der schädliche Ausstoß von Kohlendioxid reduziert, was angesichts der Klima-Katastrophe geradezu existenziell wichtig für uns alle ist.
Mir ist rätselhaft, wie die Bahn mehr Menschen anlocken will, wenn man jetzt schon ernüchtert feststellen muss: Sie schafft es nicht einmal, das jetzige Aufkommen an Fahrgästen pünktlich, zuverlässig, bezahlbar und im besten Fall (man darf ja nicht zuviel verlangen) auch nur halbwegs komfortabel von A nach B zu bringen.
Ich werde mir mit der nächsten Überprüfung meiner Vorbehalte gegen die Bahn etwas Zeit lassen. Ich muss erst die Erlebnisse der vergangenen Tage verarbeiten. Das kann dauern.
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