
Die Betroffene Sara Wiese aus Recklinghausen hat mit Blick auf mögliche Folgen der Missbrauchs-Studie „nicht viele Erwartungen“. © Meike Holz
Betroffene Sara Wiese aus RE: Nicht nur zwei Priester haben sie missbraucht
Katholische Kirche
Bis zu 6000 Opfer vermutet die neue Studie zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster. Eine der Betroffenen ist Sara Wiese aus Recklinghausen.
Sara Wiese ist im Kindes- und Jugendalter mehrfach Opfer sexueller Gewalt in unterschiedlichen Kontexten geworden. „Ich wurde von zwei Priestern des Bistums Münster und einem ehrenamtlichen Mitarbeiter in den neunziger Jahren in Recklinghausen missbraucht. Und ich bin auch in meiner Familie mit sexueller Gewalt groß geworden“, berichtet die heute 39-Jährige.
Sara Wiese ist eine der 610 bekannten Betroffenen, die laut der am Montag, 13. Juni, veröffentlichten Studie der Universität Münster zwischen 1945 und 2020 von insgesamt fast 200 Klerikern sexuell missbraucht wurden. Mehr möchte sie zu dem damaligen Geschehen nicht sagen.
Dabei gehen die Forscher um den Historiker Prof. Thomas Großbölting von einer acht- bis zehnmal so hohen Dunkelziffer aus - also von 5000 bis 6000 Opfern. Erschreckend hohe Zahlen, die Sara Wiese aber nicht überraschen: „Diese Größenordnung war zu erwarten - denn im Gegensatz zu früheren Studien hatten die Wissenschaftler jetzt Zugang zu allen Archiven des Bistums Münster.“
„Die Studie ist ein Meilenstein“
Sara Wiese sieht in der Studie einen Meilenstein: „Sie ist richtig gut gemacht.“ Und die Sozialpädagogin hält die Untersuchung der Münsteraner Wissenschaftler für die Grundlage, um jetzt mit der eigentlichen Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zu beginnen. Dennoch ist die Recklinghäuserin zurückhaltend, wenn es um die Frage geht, was die konkreten Folgen der Studie sind.

Sara Wiese: „Das Bistum muss auch die Situation in den Gemeinden verbessern.“ © Meike Holz
„Ich habe nicht viele Erwartungen“, sagt die Betroffene sachlich - mit Blick auf mögliche Konsequenzen. „Ich wünsche mir, dass das Bistum Münster weiter so engagiert bei der Aufarbeitung mitmacht, wie es die aktuelle Studie unterstützt hat. Dabei muss es um die Betroffenen gehen, der erste Gedanke darf nicht mehr sein: Was macht das mit der Kirche?“ In diesem Zusammenhang hält es Sara Wiese für notwendig, dass hier Menschen Entscheidungen treffen, die außerhalb des Systems Kirche stehen: „Wie soll man innerhalb des Systems Kirche erwarten, dass das eigene System vernachlässigt wird, um ein anderes - das der Betroffenen - zu stärken? Da braucht es die Politik und andere, nicht kirchenorientierte Systeme.“ Auch die Situation in den Gemeinden muss das Bistum Münster nach Ansicht von Sara Wiese verbessern - hier nennt die junge Frau Stichworte wie die Enttabuisierung sexueller Gewalt sowie regelmäßige Präventionskurse, die mehr als nur „quälende Pflichtveranstaltungen“ sind.
Wie sehr wird sich das Bistum Münster hier engagieren? „Auf der einen Seite habe ich den Eindruck, dass das Bistum interessiert ist, die Aufarbeitung zu unterstützen. Hier gibt es Lernfähigkeit und -willigkeit.“ So berichtet Sara Wiese, die eine der Ansprechpersonen der vom Bistum Münster unterstützten Betroffeneninitiative ist, zum Beispiel von guter Kommunikation mit der Interventionsstelle. Doch sie nennt auch andere Beispiele: „Nach der Übergabe der Studie in Münster haben Bischof Genn und ich öffentlich Stellung genommen. Das Bistum hat die Rede von Felix Genn komplett ins Internet gestellt, schriftlich herumgeschickt. Über mein Statement wurde kein Wort verloren. Da war wieder die Sichtweise und das Augenmerk ausschließlich auf den Bischof - die Betroffene war raus. Nach meiner Anregung hat das Bistum nun meinen Beitrag auf der Homepage veröffentlicht.“
„Die Beichte war oft der Eintritt für den Missbrauch“
Die Überhöhung des Priesteramtes gehört neben den starken Hierarchien, Machtstrukturen und der Männerdominanz für Sara Wiese zu den systemischen Problemen in der katholischen Kirche, „die man verändern müsste.“ Faktoren wie Macht und Hierarchie würden überall - auch in den anderen gesellschaftlichen Bereichen - den Missbrauch begünstigen, seien also nicht kirchenspezifisch. Dennoch gebe es in der katholischen Kirche besonders krasse Ausprägungen - von der Heiligkeit des Priesters vor allem in früheren Generationen bis zu Strukturen wie der Beichte: „Ich weiß von vielen Betroffenen, dass die Beichte der Eintritt für den Missbrauch war.“
Skepsis bei der Umsetzung grundlegender Änderungen
Doch so notwendig für Sara Wiese strukturelle Veränderungen in der katholischen Kirche sind, so skeptisch ist die Recklinghäuserin in Bezug auf deren Umsetzung: „Wie soll Bischof Genn hier grundlegende Veränderungen schaffen?“ Und die 39-Jährige fügt hinzu: „Ich erwarte nicht, dass sich das System katholische Kirche zu meinen Lebzeiten ändert.“
Der persönliche Glaube ist nicht beeinträchtigt
Ihren persönlichen Glauben sieht Sara Wiese, die weiterhin katholisch ist, nicht durch den Missbrauch beeinträchtigt. Sie betont: „Ich habe durch die Kirche auch Halt und Unterstützung erlebt: Dinge, für die die Kirche stehen sollte - eigentlich.“
Geboren 1962 in Dortmund, aufgewachsen in Recklinghausen, wo er auch heute mit seiner Familie lebt. Zwischenzeitlich verschlug es ihn zum Studium und zur Promotion nach Köln und Bochum. Dabei standen Germanistik und Philosophie im Mittelpunkt. Als Freund des Schreibens und mit viel Neugierde auf Menschen und ihre Geschichten fühlt er sich im Journalismus am richtigen Platz.