Das wird wohl wieder so „ein komisches Gefühl“ sein, von dem Michael Sacher später noch sprechen soll und das den Grünen-Politiker aus Unna am Dienstag überkommen dürfte: Bis zum Montag war Sacher noch Bundestagsabgeordneter; nur einen Tag später wird der 60-Jährige die erste Sitzung des neu gewählten Parlaments als geladener Gast von der Besuchertribüne aus verfolgen.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat die 145 ausscheidenden Abgeordneten eingeladen, das Einläuten der neuen Legislaturperiode persönlich im Reichstagsgebäude mitzuerleben.
Sacher irrte mit „Ich bin dann mal raus“
Für Michael Sacher ist das eine Ehre und doch fügt sich sein womöglich letzter Auftritt im Saal des Bundestages als Schlusskapitel in eine dramatische Kurzerzählung ein, die mit dem späten Abend des 23. Februar für den Buchhändler begann: Der Abgeordnete des Wahlkreises Unna I verlor sein Mandat.
Während er in der Wahlnacht in seiner Heimat Unna noch davon ausgehen musste, dass der 20. Deutsche Bundestag wie auch sein Abgeordnetendasein in Kürze ohne Spektakel Geschichte sein würden, stellten das alte Parlament und sein Mandatsträger Sacher mit einem Mal Historisches auf die Beine.
„Das war irritierend für mich“, erinnert sich Michael Sacher an die denkwürdige Entscheidung des Bundestages am 18. März über die Aufnahme von Milliardenkrediten, das sogenannte Sondervermögen für Verteidigung und Infrastruktur und größtes Schuldenpaket in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

„Ein komisches Gefühl, eine solch wichtige und weitreichende Entscheidung zu treffen – und überhaupt nichts mehr damit zu tun zu haben“, schiebt der Kulturpolitiker nachdenklich wirkend hinterher. Ja, räumt er ein, das sei schon recht schnell nach dem Wahlsieg der Union und der sich abzeichnenden Koalition mit der SPD klar gewesen: Noch der alte Bundestag würde über ein mächtiges Finanzpaket zu entscheiden haben.
Sein Instagram-Posting „Ich bin dann mal raus“ – in weißen Lettern auf grünem Grund einen Tag nach der Bundestagswahl – zählte plötzlich nicht mehr. Sacher und 732 weitere Bundestagabgeordnete mussten sich binnen kürzester Zeit mit der Aufnahme von 500 Milliarden Euro befassen.
Emotionaler Höllentrip mit und ohne Schuldenbremse
Michael Sacher nimmt es mit einer Woche Abstand überraschend locker und professionell. „Das ist Teil des Jobs“, sagt er schlicht. Und: „Ich habe immer gesagt: Wenn Britta Hasselmann mich um 23 Uhr anruft und mir sagt: ,Du musst morgen um 8 Uhr da sein‘ – dann bin ich da.“
Diese funktionale Ebene war für Sacher das eine, eben seine Arbeit als Volksvertreter ordentlich und verlässlich zu Ende zu bringen. Wären drei Jahre Ampel-Koalition mit all ihren Irrungen und Wirrungen nicht schon aufreibend genug gewesen, ging es für Michael Sacher in den vergangenen drei Wochen andererseits aber auch auf einen ungleich emotionaleren Höllentrip.
„Wir haben drei Jahre darunter gelitten“, beschreibt Sacher die Gefühlslage seiner Fraktion und besonders ihres grünen Wirtschafts- und Klimaschutzministers Robert Habeck, die die Schuldenbremse für Investitionen lockern wollten und bei der Opposition auf Granit bissen – bis zum Tag nach der Wahl.

Staatspolitische Verantwortung habe man dann übernommen und – als künftige Oppositionspartei – dem Milliardenpaket zugestimmt. „Dieses Geld haben die falschen Leute zur Verfügung“, findet Michael Sacher zugleich – wie könnte es anders sein.
Eine „Trotzkindhaltung“, so Sacher, einzunehmen, sei aber nicht infrage gekommen. Dennoch ist er skeptisch, wofür das ganze Geld am Ende tatsächlich ausgegeben wird. „Ich bin nicht optimistisch, dass ich in einem halben Jahr jubeln werde.“
Ob er sich nicht auch in einem Gewissenskonflikt befunden habe, weil er ja eben den gerade erst neu gewählten Abgeordneten dieses riesengroße Schuldenpaket hinterlassen habe? „Ja und nein“, sagt er schmunzelnd – da müsse er wirklich „eine typische Politikerantwort geben“.
Sacher gab 2022 Ratsmandat in Unna auf
Rein rechtlich sei völlig klar, dass der alte Bundestag noch entscheiden durfte. Aber, meint Sacher, auch moralisch. Sich als Grüne bei den geplanten Verteidigungsausgaben anders zu entscheiden „wäre schwierig bis unmöglich gewesen“, ist sich der Unnaer sicher. „Dann hätte es nicht nur ein Problem für die Ukraine, sondern für die Weltpolitik geben können.“
Zumindest bei der grünen Fraktion seien es nur 14 Abgeordnete, die ausscheiden, der überwiegende Teil der bisherigen Mandatsträger sei auch im neuen Bundestag vertreten. Michael Sacher aber muss Berlin verlassen.
Sein Abgeordnetenbüro ist so gut wie ausgeräumt. „Ich war einer der Abgeordneten mit den meisten Büchern“, erzählt der Bibliophile jetzt mit ungleich heiterer Stimme. „Das ist wohl nicht überraschend.“

In den „vielen tollen Buchhandlungen in Berlin“ habe er den ein oder anderen Schmöker „fremdgekauft“. Alles, einschließlich seines Berliner Fahrrades, musste in einem Sprinter untergebracht werden, bevor es am Tag nach der konstituierenden Sitzung des Bundestages auf die Autobahn gen Westen geht.
In Unna werde er wieder ins Buchhandelsgeschäft einsteigen, an der Seite seines Kompagnon Gordon Friese bei Hornung am Unnaer Markt. Unmittelbar zurück in die Kommunalpolitik geht es indes nicht: Sacher hatte, nachdem er im Juni 2022 in den Bundestag nachgerückt war, Ratsmandat und Vize-Bürgermeisteramt niedergelegt – in diese Funktionen kann er nicht zurück.
„Nachher fängst du noch an zu heulen“
Vielleicht aber bei der Kommunalwahl im September? Das Politische stehe jetzt zunächst „in zweiter Linie“, so Michael Sacher, der in bestem Politikersprech andeutet, „dass da sicherlich eine Perspektive ist, auf die Ratsliste zu gehen“. Ratsmitglied also eventuell, und geht da noch mehr – schließlich gibt es auch Personenwahlen zum Bürgermeister- und Landratsamt?
„Ich fände es unangenehm, aus Berlin hier aufzuschlagen und zu sagen: ,Ich bin wieder da – ich will alles‘“, sagt der Familienvater dazu nur. Immerhin sei das Vorziehen der Bundestagswahl, die regulär auch im September stattgefunden hätte, „im Schlechten das Bessere“ gewesen. Denn hätte die Bundestagswahl erst im Herbst angestanden, hätte Michael Sacher keinesfalls parallel für ein kommunales Amt kandidiert.
Wie sich die politische Farbenlehre im Unnaer Stadtrat verändert, wird der Bündnisgrüne also womöglich in seiner Heimatstadt hautnah erleben. Nach ersten Bedenken habe er sich entschlossen, am Dienstag von der Galerie aus auf den neu zusammengesetzten Bundestag zu schauen. Er erwarte bei sich einen gewissen „Schock“ beim Anblick der 152 AfD-Abgeordneten „und einer SPD so klein, wie sie geworden ist“.
Und warum hatte er zunächst Bedenken, die Einladung der Bundestagspräsidentin anzunehmen und diesen seltenen Verfassungsakt persönlich zu erleben? „Ich dachte, nachher fängst du noch an zu heulen“, gibt Michael Sacher zu.
