Der smarte selbst ernannte „Friedensforscher“ aus Lugano, der mit seinem Mikrofon über die Bühne springt, hat ein treues, großes Stammpublikum. Der Schweizer Daniele Ganser verkauft Meinung und wirbt so nebenbei für seine Bücher. Deren zentrales Thema: Schuld sind Amerika, die Nato, der Westen. An 9/11, den Kriegen im arabischen Raum, an den islamistischen Morden um „Charlie Hebdo“. An dem, was in der Ukraine passiert. Eben an allem. Ja, und es gebe auch eine „psychologische Kriegsführung“ gegen die Deutschen, weil man noch immer nicht zwischen Deutschland und Hitler trenne. Es ist, vorsichtig ausgedrückt, die konservativste Seite, die er bedient. Seine Kritiker werfen ihm „Verschwörungstheorien“ vor. Er scheint geübt darin, die Zuhörer durch geschickte Fragen zu verunsichern. Antisemitische Töne? Verbindungen zum Thema NS-Zeit baut er zumindest gerne ein. Der Mix füllt die Säle.
Dürften sie denn sagen, was dieser Ganser da vorne zu sagen und zu fragen wagt? Nicht wenige seiner Fans würden das sicher bezweifeln. Das Allensbach-Institut hat ermittelt: Etwa jeder zweite Deutsche glaubt, dass man in unserem Land seine Meinung äußern könnte. Steht die Meinungsfreiheit wirklich auf dem Spiel? Wie weit darf sie überhaupt gehen? Und wann darf der Staat eingreifen?
Gansers Auftritte sind im Frühjahr zum juristischen Prüfstein für diese Zweifel geworden. Im März hat er mit dem Thema „Warum ist der Ukrainekrieg ausgebrochen?“ gleich zum dreifachen Hieb ausgeholt. Termine in Hannovers Kongresscenter, in Nürnbergs Meistersinger- und Dortmunds Westfalenhalle. Hannovers Stadtspitze ließ ihn mit der Begründung reden, Rede und Gegenrede gehörten zur Demokratie. Die ebenfalls städtischen Hallen in Nürnberg und Dortmund versagten ihm den Auftritt – zunächst. In einem niederländischen Dokumentarfilm zur Pandemie habe er die „Spaltung zwischen geimpft und ungeimpft“ mit der Verfolgung der Juden und Jüdinnen durch die Nazis gleichgesetzt, hieß es aus der Dortmunder Stadtgesellschaft, „das ist eine Ausdrucksform des Antisemitismus“. „Wenn die Geschäftsführung der Westfalenhalle die Veranstaltung nicht durchführt, würde der Oberbürgermeister dies als Gesellschafter mittragen“, stützte OB Thomas Westphal, SPD, die Absage und berief sich auf einen Ratsbeschluss von 2019, wonach antisemitisch handelnden Personen und Gruppen weder Räumlichkeiten noch Flächen zur Verfügung gestellt werden dürfen.
Doch Dortmunds Stadtführung ist vor die Wand gelaufen. Das Oberverwaltungsgericht Münster entschied unter Aktenzeichen 15 B 244/23 am 22. März: „Die … Nutzungsversagung verstößt in dieser Allgemeinheit gegen die Meinungsfreiheit, weil sie an Meinungsäußerungen mit einem bestimmten Inhalt anknüpft.“ Allerdings gilt diese Vorgabe nicht für private Säle. Hier darf jeder Eigentümer selbst entscheiden, an wen er vermietet.

Deshalb scheiterte die AfD in Berlin mit Plänen für eine Parteiveranstaltung. Ganser dagegen durfte, in Dortmund wie in Nürnberg, auf die Bühne und seine Meinung sagen – auch, wenn viele das nicht gut finden. Dank der Meinungsfreiheit.
Die Meinungsfreiheit wird in diesem Jahr 234 Jahre alt. Französische Revolutionäre stellten 1789 im Artikel 11 der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ fest: „Die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte. Jeder Bürger kann also frei schreiben, reden und drucken unter Vorbehalt der Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen“. Zwei Jahre später schrieben es die Vereinigten Staaten von Amerika ähnlich in ihre „Bill of Rights“ – und untersagten dem Kongress sogar, die Redefreiheit per Gesetz einzuschränken.
Deutschland war eher Spätzünder. Demokratische Strukturen, die im Artikel 118 auch die Meinungsfreiheit festlegten, brachte erst die Weimarer Verfassung von 1919 – eingeschränkt durch ein Recht des Reichspräsidenten, sie aufheben zu dürfen. 1933 machte die Machtergreifung Adolf Hitlers alle demokratischen Ansätze zunichte. Erst nach Kriegsende konnte die neu gegründete Bundesrepublik 1949 im Grundgesetz-Artikel 5 klarstellen: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten ... Eine Zensur findet nicht statt“. Schranken gibt es „in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre“.
So kämpft die Demokratie gegen die eigene Abschaffung
Viele westliche Staaten regeln das freie Wort ähnlich. Das deutsche Recht verfügt jedoch über eine Besonderheit. Sie ist infolge der NS-Morde an sechs Millionen Juden entstanden. Im Strafgesetzbuch gibt es den Paragraphen 130, „Volksverhetzung“. Er bestraft zunächst Verstöße gegen die Menschenwürde allgemein. In den Absätzen 2 und 3 geht es um die Billigung und Verherrlichung nationalsozialistischen Handelns und die Leugnung des Holocausts. Wo in diesem Paragraphen bei Verstößen die Grauzonen liegen und wo sie Strafen bis zu fünf Jahren Haft zur Folge haben – das ist häufig Gegenstand der juristischen Auseinandersetzungen zum Beispiel im Vorfeld von angemeldeten Rechtsaußen-Demos. Eine weitere Grenze der Meinungsfreiheit zieht außerdem Artikel 18 des Grundgesetzes. Sie wird eingeschränkt im Falle, dass sie jemand „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht“. So wehrt sich die Demokratie gegen ihre eigene Abschaffung.
Urteile im Zusammenhang mit der „Holocaust“-Leugnung fallen unterschiedlich aus. Die Stadt Dortmund ist mit Demonstrationsverboten zwei Mal gescheitert, was wilde Auftritte von Demonstranten und Gegendemonstranten nach sich zog. Sie konnte sich ein andermal, 2012, durchsetzen. Es ist ein brisantes Terrain. Selbst AfD-Politiker bewegen sich vorsichtig. Thüringens AfD-Chef Björn Höcke machte 2015 einen Rückzieher, als berichtet wurde, er habe im Jahr zuvor in einer Email die Abschaffung des Volksverhetzung-Paragraphen gefordert: „Wir brauchen keine politische Strafjustiz – hinfort, und zwar schnell“. Er könne „nicht genau sagen“, ob der Text von ihm sei, bekannte er schließlich. Begrenzte Speicherkapazität seines Rechners lasse die Prüfung nicht zu.
Orientierungsrahmen für die Gerichte setzen auch die Staatsschutz-Gesetze ab dem Paragraphen 80 des Strafgesetzbuches. Verboten werden darin zum Beispiel das Aufstacheln zur Aggression, die Fortführung von verfassungswidrig erklärten Parteien oder Vereinigungen oder auch Hochverrat. Die staatliche Bundeszentrale für Politische Bildung bemüht sich, schwer zu verstehendes Juristensprech anschaulich zu erklären und beschreibt, wieviel Meinungsfreiheit erlaubt ist und wo ihre Grenzen sind. Im Netzauftritt „Einfach.Politik“ übersetzt sie den Artikel 5 in Umgangsdeutsch und ist dabei sogar recht offenherzig: „Es ist verboten, zum Hass auf andere Menschen aufzurufen oder anderen Menschen mit Gewalt zu drohen. Das verbreitet Angst und die Menschen fühlen sich nicht mehr sicher. Hass und Gewalt verletzen die Rechte anderer Menschen. Auch Beleidigungen sind verboten. Eine Beleidigung ist eine Aussage, die eine andere Person missachtet oder verachtet. Eine Beleidigung ist zum Beispiel, einen Menschen ein ‚Stück Scheiße‘ zu nennen“.
Untersuchungen der internationalen Nichtregierungsorganisation Freedom House bestätigen dem deutschen Staat und deutschen Gerichten große Sensibilität gegenüber Beschränkungen der Meinungsfreiheit. Sie hat den Zugang der Bürger zu Freiheitsrechten in 210 Ländern abgeglichen. Danach müssen weltweit Milliarden Menschen mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit leben, nicht nur in Ländern wie China und Weißrussland. Skandinavien und Kanada nehmen dagegen einen Spitzenplatz der Freiheit ein – und dahinter bald auch Deutschland. Tatsächlich ist es in den sieben Jahrzehnten Bundesrepublik fast nie zu direkten staatlichen Eingriffen gekommen, verteidigten die Obergerichte auch scheinbar gewagte Äußerungen. Wie schon 1962. Der Hamburger „Spiegel“-Verlag hatte das Vorgehen der Regierung gegen seinen bundeswehrkritischen Text „Bedingt abwehrbereit“ sowie eine spektakuläre Redaktionsdurchsuchung und die Festnahme von Redakteuren vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt. Das wies die Klage selbst zwar zurück. Aber es unterstrich in weiten Bereichen des Urteils die entscheidende Rolle des Artikels 5 und forderte vom Gesetzgeber weitere Absicherungen. Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU) musste nach regierungsinternem Streit in der Sache zurücktreten.
Der Staat muss neutral sein
Noch heute, mehr als sechzig Jahre später, fahren die Karlsruher Richter auf diesem Kurs. 2018 riefen sie die damalige Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) zur Ordnung. Die hatte unter dem Briefkopf ihres Ministeriums eine „rote Karte für die AfD“ verlangt und zum Boykott für deren Veranstaltung „Rote Karte für Merkel – Asyl braucht Grenzen“ aufgerufen. Das Ministerium hielt das AfD-Motto für einen Ausdruck rechtsextremer Gesinnung. Das Verfassungsgericht stellte klar: Das darf der Staat nicht. Die im Grundgesetz allen Parteien garantierte Chancengleichheit werde verletzt, wenn „das Handeln staatlicher Organe darauf gerichtet ist, die Durchführung politischer Demonstrationen oder das Verhalten potenzieller Teilnehmer zu beeinflussen“.

Etwas anders gelagert ist ein pikanter Fall der jüngsten Vergangenheit, der aber genauso eine weitgehend liberale Herangehensweise der bundesdeutschen Justiz und auch der Regierenden in Deutschland belegt. Die zentralen Rollen in diesem Drama von 2016 spielen der Entertainer und Satiriker Jan Böhmermann und sein Gegenpart Recep Tayyip Erdogan, der Präsident der Türkei. Als Böhmermann in seiner ZDF-Sendung „Neo Magazin Royale“ ein gegen den Staatschef gerichtetes Gedicht vorträgt, das das Staatsoberhaupt satirisch verschwurbelt mit Sex mit Tieren in Verbindung bringt und in seiner Heftigkeit auch nach Maßstäben der Kunstfreiheit außergewöhnlich ist, verlangt die Staatsführung in Ankara eine Strafverfolgung in Deutschland. Sie beruft sich auf den deutschen Artikel 103 des Strafgesetzbuches, der die Beleidigung von Vertretern und Organen ausländischer Staaten ahndet.
Der Text, fordert der türkische Präsident, müsse verboten werden.
Besteht hinreichender Tatverdacht? Die Staatsanwaltschaft in Mainz prüft ein halbes Jahr lang. Dann entscheidet sie: Die Ermittlungen werden eingestellt. In der zivilrechtlichen Fortsetzung der Affäre werden noch mehrere renommierte Anwälte und Gerichte beschäftigt. Schließlich urteilt das Landgericht Hamburg, das Gedicht sei in Teilen ehrverletzend. Aber eben nicht an allen Stellen. Ein Teil des Böhmermann-Werks kann weiter bestehen. In letzter, diesmal politischer, Instanz, entscheidet der Deutsche Bundestag. Er hält den ganzen Paragraphen 103 für überflüssig und streicht ihn kurzerhand aus dem deutschen Strafrecht.
Die Gesellschaft streitet mit Shitstorms
Bedeutet diese Liberalität denn auch, dass sich die Bürger Beleidigungen und bösartiger Propaganda ungeschützt aussetzen müssen? Der Streit um Shitstorms stellt das Land vor ganz neue Herausforderungen. Sie werden weniger zwischen Staat und Gesellschaft ausgefochten, als innerhalb der Bürgerschaft. Die Vehikel dafür sind das Netz und die Sozialen Medien, in denen sich jeder, teils anonym, äußern darf und viele dies auch tun. Die Politikerin Renate Künast wurde hier immer wieder beschimpft. Als „geisteskrank“ und „gehirnamputiert“, als „Pädophilen-Trulla“ oder „altes grünes Dreckschwein“. Die Grüne sah sich als Opfer. Sie zog vor das Bundesverfassungsgericht. Die Richter bestätigten 2022: Künast sei in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt worden. Sie machten klar, dass Facebook die Namen der Beleidiger nennen und ähnliche Äußerungen streichen sollte. Wie wird der gigantische Internet-Konzern dem nachgeben? Technisch geht das. Ein spannender Vorgang – und vielleicht eine Weichenstellung für die Zukunft.
„Dieses Verfahren habe ich nicht für mich gemacht“, sagt Künast. „Es geht darum, dass Persönlichkeitsrechte von politisch engagierten Menschen im Netz geschützt werden müssen“. Auch, wenn User XY dann eben nicht mehr alles sagen darf.
„Alles sagen! Der Streit um die freie Meinung“ am Samstag. Sie wollen mit uns Kontakt aufnehmen? Schreiben Sie uns unter sagen@lensingmedia.de